Der reine Berg |
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Samstag, 7. Dezember 2013
Geheimnisse Allein der Blick hin zu einem Berggipfel reiche aus, gewisse Ängste in ihr zu entwickeln. Deshalb meide sie jede Höhe, von der aus sie gezwungen sei, hinabzublicken. Sofort ergriff Rabulski mit seiner möglicherweise durch übermäßig viele verfaßte, rechtsphilophisch nicht eben logisch erscheinende Schriftsätze in mehr oder minder banalen Verkehrsstrafsachen erlahmten rechten Schreibhand ein imaginäres Seil. Es bot sich ihm dar in Form eines Handlaufes, auch als Treppengeländer bekannt. Er selbst verfügte zwar über geringe bergsteigerische Erfahrung, doch er erinnerte sich, in sehr jungen und durchaus noch sportiferen Jahren einmal dazu verführt worden zu sein, unweit des Mont Blanc den Anstieg zu einem in Fachkreisen nicht allzu anspruchsvoll genannten Gipfel in Angriff zu nehmen. Für diesen Kreuzweg nach ganz oben hatte er einen Kamin zu durchklettern, der ihn in seiner extremen Angst vor Enge das Fürchten lehrte. Doch sein voraussteigender Gipfelstürmer hatte ihm immerhin das ihm dennoch dünn erscheinende Ende eines tauartiges Gebildes zurückgelassen, an dem er Halt finden konnte, wenn es auch ein vermeintlicher war. Das nun angebotene Treppengeländer erschien ihm weitaus stabiler. An ihm zog er sich also hinauf, den Stock als Treppensteighilfe benötigte er dazu überhaupt nicht. Ihm war, als ob er geschoben, eher noch, als ob ihn seine Begegnung auf kräftigen Armen tragen würde. Nun, seine vielen altersbedingten Zipperlein hatten ihn im Lauf der letzten Jahre aber auch enorm an Gewicht verlieren lassen. Dennoch gewann er den Eindruck, diese Buchhändlerin müsse neben dem Chorgesang in ihrer Freizeit noch eine weitere Tätigkeit ausüben, die mit kräftigendem Sport zu tun haben könnte. In der vierten Etage und vor der Wohnungstür angekommen, eröffnete ihm die Gipfelstürmerin wider Willen, sie hätten durchaus den Fahrstuhl benutzen können. Den, wobei sie eine Entschuldigung einschob, vermeide sie jedoch wegen ihrer Befürchtung, das vor Jahrzehnten nachträglich ins Haus eingebaute Gerät könne stehenbleiben und sie müsse möglicherweise eine ganze Nacht darin verbringen. Da zöge sie ihr gemütliches Sofa vor, auf das sie ihn sogleich bei rotem Wein und bläulichen Törtchen, deren Crème ihre Farbgebung aus Heidelbeeren bezögen, bitten werde. Sie gab in den rechts der Tür angebrachten Kleincomputer, den er aus seinem Land kannte, den er jedoch in Deutschland noch nie gesehen hatte, eine geheime Zahl ein, und mit einem leisen Summen öffnete sich die Pforte zu ihrem Reich. Sie drückte verschiedene, in die Wand eingelassene Knöpfe. Leise, aber unüberhörbar erklangen Madrigale der Renaissance, von denen er bereits in den ersten Klängen meinte, sie schon einmal gehört zu haben, die er jedoch nicht annhähernd genau bestimmen konnte, für derartige Feinheiten war sein musikalisches Erinnerungsvermögen zu schwach ausgeprägt. Sanftes Licht aus einer schieren Unzahl an in Ecken und Winkeln verborgenen Lämpchen durchflutete die gesamte, von ihm auf etwa einhundert Quadratmeter geschätzte verzweigte Wohnung. Sie half ihm aus seinem leichten Mantel, legte ihre wesentlich wärmendere Jacke sowie Schal und Handschuhe ab und bat ihn in einen Raum, in dem ein Sofa das leicht seitlich versetzte Zentrum bildete. Dorthin möge er sich setzen, sie stelle nur eben die Einkäufe ab und sei sofort zurück. Gerne möge er sich aber auch umsehen oder auch eine andere Musik auflegen, wenn ihm danach sei. Doch sie hege keinerlei Zweifel an seinem Gefallen an diesen Klängen. Sie habe sich ein Bild von ihm gemacht und sei sich sicher, ihn schon lange zu kennen. Zur Renaissance dürfte er ohnehin einen ausgeprägten Bezug pflegen, auch wenn der anzunehmenderweise von seiner eher rückblickenden Neigung herrühre und er gerne verdränge, daß es sich um die Moderne handele, die seinerzeit mit ihr eingeläutet worden war. Diese von ihr wiederholte Feststellung verblüffte ihn erneut. Er nahm den angebotenen Platz auf dem recht voluminösen Sofa, wenn auch eher auf der vorderen Kante. Wie der schüchterne Jüngling früherer Zeit empfand er sich. Dort grübelte er wiederum darüber nach; Wo sollte sie sich ein Bild von ihm gemacht haben, woher sollte sie ihn kennen? Ihm war das ein Rätsel. Eine Buchhändlerin aus Nordwestdeutschland sollte einen Juristen aus dem französischen Lothringen kennen? Er beschloß, sich ein Herz zu fassen und sie nach den Grundlagen für diese Behauptung zu fragen, selbst auf die Gefahr hin, wegen seiner Neugierde gemaßregelt zu werden. Als sie innerhalb kürzester Zeit in den Raum zurückkehrte, der hierzulande wohl Wohnzimmer genannt wurde, mit einer Flasche aus dem Bergerac in der einen Hand und zwei zwar langstiligen, dennoch schlichteren Ballons in der anderen, verließ ihn auf der Stelle wieder der Mut, nachzufragen. Sie stellte die Flasche mit dem Wein aus der von ihm als recht versiertem Trinker bevorzugten Région sowie die Gläser auf dem kleinen, mit Intarsien belegten Tisch ab, schenkte ein, reichte ihm eines der etwa zur Hälfte gefüllten Gläser und setzte sich bei leichtem, ersichtlich spürbarem Körperkontakt neben ihn. Ihre von einem Lächeln durchzuckten Augen mit benachbarten, für ihn erfreulich sichtbar werdenden sogenannten Krähenfüßchen kamen den seinen näher. Aus diesem Mund, den er seit jungen Jahren so gerne geküßt hätte, der ihm jedoch immer verweigert blieb, kam die von leichtem Spott begleitete Bemerkung, sie sei ihm also ein Rätsel. Sicher, sie sei zweifelsohne ein rätselhaftes Wesen, doch gerne würde sie die ihn so arg drängende Frage beantworten, woher sie ihn kenne. Es sei sehr viel weniger geheimnisvoll, als er vermutete. Es sei nichts als schnöde Wirklichkeit, die der Wahrheit auch nicht nur annähernd gleichkomme.
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Letzte Aktualisierung: 2014.02.12, 19:21 status
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