Der reine Berg
Donnerstag, 19. Dezember 2013

Die Feine

Er sei noch immer der melancholisch-fröhliche junge Mann von damals, der neckarnaß neben der alten Brücke dem Fluß entstiegen war. Zwar sei er mittlerweile offensichtlich ein wenig müde geworden von seinem bisherigen Leben des andauerenden Schwimmens. Doch nun gebe es ein neues. Nun dürfe er sich ausruhen. Bei ihr. Mit ihr, im wässrigen Element. In dem sterbe die Jugend nie.

Fröhlicher junger Mann? Damit konnte er schwerlich gemeint sein. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ein solcher gewesen zu sein. Und Neckarnaß? Was war das für ein Wort? Was konnte damit gemeint sein? Er rätselte still vor sich hin, über seine ihm mittlerweile leicht seltsam vorkommende Begegnung. Doch mit einem Mal begannen laufende Bilder der Langzeiterinnerung in Rabulskis Kopfkino anzulaufen,

"Neckarnaß." In fast jugendlichen Jahren verbrachte er eine kurze Zeit an diesem behäbig dahinfließenden Flüßchen unterhalb dieser überwiegend von US-amerikanischen, biergeölten Touristenstimmen vielbesungenen Städtchens. Kommilitonen seiner juristischen Fakultät hatten ihm von dieser Stadt vorgeschwärmt, die auch die Feine genannt wurde. Der Hauptgrund für die Reise der anderen dorthin dürfte allerdings die Möglichkeit gewesen sein, dort günstig das einkaufen zu können, das anderswo nicht erhältlich war, schon gar nicht im heimatlichen Frankreich. Heidelberg war von Uniformierten beherrscht, die, obwohl es von den Oberen nicht sonderlich gern gesehen worden war, recht gerne Kontakt zu Einheimischen suchten und denen, quasi als Beweis einer unerfindlichen Freundschaft, die Möglichkeit boten, gemeinsam mit ihnen die PX aufzusuchen, wo sehr preisgünstig beispielsweise dieser scheußliche Bourbon-Whisky sowie diese Pall Mall-Zigaretten zu erstehen waren, die als höchstes Gut empfunden worden sein mußten, selbst oder gerade im Land gehaltvollen Weingeistes und geschmackvoller Gauloises oder Gitanes. Am Eingang zu diesem eigentlich nur für US-Soldaten, zumindest aber amerikanische Staatsbürger zugänglichen Supermarket wurde nicht geprüft, welcher Nationalität die zugelassenen Gäste entstammten. Und so nutzten viele seiner Bekannten (Freunde hatte er zu dieser Zeit bereits kaum) immer wieder die Möglichkeit ins von Strasbourg aus nicht allzu weit entfernte merry old Heidelberg, die Foine zu reisen und sich via grenzenloser Freundschaft diese wundervolle Konsumwelt des american way of culture zunutze zu machen.

Er fuhr zwar nicht des Einkaufens wegen, sondern aus Interesse an Deutschland dorthin mit, doch dieses eine und einzige Mal hielt ihn dann doch tatsächlich gleich etwas länger im romantischen Städtchen fest, nicht zuletzt, da sich dort einige angenehme Lokalitäten befanden, die durchaus mit den heimatlichen Sitten des miteinander Plauderns während des Trinkens vergleichbar waren. Im Weinloch beispielsweise stand der Gendarm neben dem Routier neben dem Professeur auch des nichtspirituösen Geistes an der Theke, und Rabulski trank, wie zuhause, das Viertelliter-Glas Wein zu einem Preis in deutschen Pfennigen, der etwa neunzig oder gar nur achtzig Centimes entsprach. Doch auch anderenorts, so etwa in einer kleinen Gaststätte gegenüber der großen Kirche neben einer Art Marktplatz fand er angenehme Gesellschaft, darunter ein Medizinerpaar, das ihm sein nahegelegenes Heim kostenlos zum Nächtigen anbot. So blieb er etwa drei Wochen.

Sehr gerne hielt er sich während dieser Tage am und im Neckar auf. Unweit der Alten Brücke befand sich ein vom Schiffsverkehr abgesperrtes Freibad, was der junge, finanziell schon elterlicherseits nicht übermäßig gut ausgestattete französische Bollag Rabulski jedoch nicht nur aus Kostengründen nicht nutzte, sondern weil es weitaus freundlicher und erheiternder war, mit anderen im eigentlich verbotenen freien Teil des Flusses zu baden. Und zudem bekam er immer wieder einmal kostenlose Nahrung ab, denn vor allem in den frühen Morgenstunden hielten sich unter der Brücke einige Angler auf, die in großen Mengen Aale aus dem Fluß zogen. Wenn die sich am Vormittag wieder nachhause aufmachten, oftmals mit zwei gefüllten Eimern voll dieser schlangenartigen Fische, hüpfte manch einer von denen aus seinem engen Gefängnis in die vermeintliche Freiheit und biß dort ins Gras.

Einen dieser bereits leicht angetrockneten, also nicht mehr ganz so schlüpfrigen Fische bekam er einmal mit der Hand zu fassen, ohne daß er ihm entglitt. Er wollte ihn dem Fluß zurückgeben, nicht unbedingt, weil er ein allzu ausgeprägter Tierfreund gewesen wäre. Aber er hatte ohnehin keinen Topf oder eine Pfanne, geschweige denn eine Feuerstelle zur Verfügung. Da wollte er ihn lieber in sein angestammtes Schlammreich zurückgeben und ihn wenigstens noch ein Weilchen weiterleben lassen. Doch aus ihm unerklärlichen Gründen schwamm er mit dem Aal, der sich ohnehin kaum nach einer Wiederbelebung zurückzusehnen schien, in der Hand zur anderen Seite des nicht allzu breiten Flusses. Was er ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt dort drüben am Ufer unterhalb des Hölderlin-Weges, in dieser sogenannt besseren Wohngegend wollte, war ihm nicht bewußt. Zu diesen Vormittagsstunden waren allenfalls hin und wieder junge Mütter unterwegs, die ihre frisch aus ihnen geschlüpfte Brut in Kinderwagen spazierend durch die Romantik dieser Flußlandschaft schaukelten. Die interessierten ihn, dem diese Frauen allesamt zu unreif waren, so wenig wie ihr Nachwuchs, dem er ebenfalls nichts abgewinnen konnte. Er hatte seinerzeit wie auch später nie wieder das Verlangen, sich zu reproduzieren und schon überhaupt nicht, anderen bei deren mehr oder minder als gelungen zu bewertenden umgesetzten Zuchtversuchen zuzuschauen.

Doch eine Dame ging dort ihres Weges, die ihre Aufmerksamkeit auf ihn zog. Sie befand sich in eindeutig fortgeschritteneren, also in für seine erotischen Phantasien sehr viel attraktiveren Jahren. Sie wirkte trotz der geschätzten vollendeten Vierzig dennoch ungemein jugendlich frisch, was durchaus daran gelegen haben könnte, daß es sich um eine dieser dort ihren Nachwuchs ausfahrenden jungen Mütter handeln konnte, denn auch sie schob einen Kinderwagen vor sich her. So wagemutig, wie er später nie wieder sein sollte, ging er auf sie zu, um sie, wie auch immer, anzusprechen. Sie nahm sein Kommen wahr, lächelte ihn an und fragte, ob er der neue Fischverkäufer sei und fügte dankend hinzu, sie esse jedoch keinen Aal oder sonstiges Getier. Dann erst stellte er fest, das mittlerweile leblose Wassertier noch immer in der Hand zu halten. Doch die freundliche Ansprache ermutigte ihn, und so trat er einige weitere Schritte an die Frau und den Kinderwagen heran.

In ihm lag ein entzückendes Mädchen, in dessen Gesicht sich bereits ein Mund andeutete, den er Zeit seines Lebens so gerne geküßt hätte, der ihm jedoch immer verwehrt geblieben war. Es zeigte sich jedoch keineswegs, wie er zunächst vermutet hatte in seinem Ulkwillen, erschreckt von dem einst schlangenwindeligen, aber nun erschlafften Fischgebilde, sondern lächelte wie Madame Maman. Wäre es bereits in der Lage gewesen, etwas in Worte fassen zu können, es hätte ihm vermutlich entgegnet: sie äße keinen Fisch und auch kein sonstiges Getier.

Und dieses feine Mädchen von damals saß nun sehr nahe an seiner Seite, rührte ihn wörtlich an, berührte ihn gar und sprach ihm gegenüber von einer nie sterbenden Jugend.

 
Do, 19.12.2013 |  link | (678) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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