Der reine Berg |
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Dienstag, 24. Dezember 2013
Alteuropäische Meerjungfrau Und dieses feine Mädchen von damals saß nun sehr nahe an seiner Seite, rührte ihn wörtlich an, berührte ihn gar und sprach ihm gegenüber von einer nie sterbenden Jugend. Aus seinen Erinnerungen zurückgekehrt, die in ihm, er vor sich hinstarrend, filmartig abgelaufen waren, drehte er sich zur Seite, zu ihrem Gesicht hin. Er nahm ein geradezu wissendes Lächeln wahr, dieser beinahe überbordend sinnliche Mund zeigte, weit über die insgesamt bereits verführerische Assymetrie der Physiognomie hinaus, die durchaus geeignet war, ein sich zusehends verinternationalisierendes weibliches Schönheitsideal zu bespötteln, eine verschmitzte, schmunzelnde leichte Schräge. Während er bereits wieder in den Strudelsog eines neuen, in diesen Gedankengang geriet, fiel Rabulski schlagartig ein, daß er noch nicht einmal den Namen seiner offensichtlich schicksalhaften Begegnung, dieser Erleuchtenden Erscheinung kannte. Vor einigen Stunden hatte sie ihn in ihr Reich geführt, entführt ließe sich nicht ernsthaft behaupten, war er ihr geradezu willenlos, eher vielleicht magisch oder manisch, auf jeden Fall sämtliche Vernunft außer Acht lassend, gefolgt, ohne sich also zumindest einen Faden legen zu lassen, etwa wie der von seiner Sekretärin Ariadne gelegte, der ihm eine Rückkehr aus diesem Labyrinth garantierte, in das er sich begeben hatte. Sie wußte seinen Namen, während er noch immer in wirren Ahnungen herumtaumelte, um wen es sich bei ihr handeln konnte. Er sprach sich schließlich eine gehörige Portion Mut zu und fragte sie, gleichwohl anders, leichter, geöffneter als bei seinen gewohnheitsgemäßen Zeugenbefragungen vor Gericht, er wolle nicht unhöflich sein, aber es dränge ihn doch arg: Ob er sie nach ihrem Namen fragen dürfe. Sicher doch, entgegnete sie heiter und fügte noch an, nein, das sei gewiß nicht unhöflich, in gewisser Weise habe er längstens ein Recht darauf. Und schwieg weiter, immer noch vor sich hinlächelnd. Er war nahe daran, unwirsch zu werden, als sie dann mit ihren leuchtenden Augen, die gleichwohl bereits unterseeische Dunkelheit andeuteten, in den seinen geradezu festmachten, jene, die den Tod durch Ertrinken anzeigten, die fast erloschen wirkten, und aus dem Mund, den er immer geküßt haben wollte, kam nur ein Wort: Sao. Sao? fragte er verwundert nach. Eine solche Assoziation wäre ihm aber auch nicht nur annähernd zu Gedanken gekommen, zumal er keinerlei Anzeichen einer asiatischen Herkunft erkennen könne. Sicher hätten ihre Eltern einen Bezug zum fernen Osten gehabt, das sei unter Deutschen schließlich lange Zeit in Mode gewesen, man denke nur an Arthur Schopenhauer oder später Hermann Hesse. Letzterer habe sogar bis in die USA eingewirkt mit seinen Glasperlenenspielen, mit seinem vom großen Philosophen auf ihn einwirkenden Buch vom einsamen Steppenwolf, das bei diesen, wenngleich ohnehin mangels einer eigenen, also letztendlich von jeder Kultur befreiten, Amerikanern geradezu kultisch verehrt worden war und wohl immer noch werde. Japanische Einflüsse verbinde er eventuell mit diesem Namen, gewiß aber die Weisheiten des Tao te King. Der kam ihm in Erinnerung, aber auch nur, weil er sich innerhalb einer heftigen Debatte um Göttlichkeiten anderen gegenüber einmal darüber lustig gemacht hatte: »Es gibt ein Wesen, unbegreiflich, vollkommen, vor Himmel und Erde entstanden, So still!, so gestaltlos! Es allein beharrt und wandelt sich nicht. Durch alles geht es und gefährdet sich nicht. Man kann es ansehen als der Welt Mutter. Ich kenne nicht seinen Namen. Bezeichne ich es, nenne ich es: TAO.« Seine sarkastischen Anflüge ignorierend schüttelte sie verneinend leicht ihren Kopf, der von leuchtendem Hell, nein, nicht illuminiert und schon überhaupt nicht illustriert, sondern krönend eingerahmt wurde, als handele es sich um eine altägyptische Untermalung von Schönheit. Nein, das sei durch und durch, urgründlich europäisch, gehe man davon aus, daß beispielsweise auch der europäische Stier aus Griechenland stamme, das, nebenbei erwähnt, zudem Vorbild sei für die Idee aktueller oder auch, im Sinne medizinischen Vokabulars, akuter Staatsformen. Wie der Stier Europa wurzele auch ihr Name in der griechischen Mythologie. Ihre Mutter, die sie recht spät, in einem Alter, in dem zu früheren Zeiten bei anderen Frauen sich bereits das Klimakterium andeutete, ohne männlichen Beistand gebärt und anschließend großgezogen habe, sei immer an kulturellen Erscheinungen, sei es an der Tragödie als Vorläufer heutigen Theaters oder an den Chören, die auch als ein Weg der Musik beschrieben werden könnten, also insgesamt an diesen Bildern der Entstehung der Welt interessiert gewesen. Sie sei als Sao eine der Nereïden und nach Hesiod als Retterin bekannt. Der vielzitierte und hochgelobte Homer erwähne sie in seiner Ilias nicht einmal. Diese Nymphen seien Töchter von Nereus, dem Sohn der Gaia und des Pontos und der Doris, der Tochter des Okeanos. Nach dieser Mutter würden sie auch Doriden genannt. Sie seien Beschützerinnen der in Seenot Geratenen. In Begleitung des Poseidon erheitere sie oft die Menschen der See mit ihrem Spiel. Oder sie begleiteten Amphitrite, selbst eine Nereïde, wenn die in ihrem Muschelboot über die Wellen reise. Sie, Sao, sei also westliche alte Welt, sie sei vor allem Symbol und Wahrzeichen für die Errettung Ertrinkender, man könne Sisyphos beispielhaft heranziehen, der sich mit einem Fels am Fuß zum Surfen auf einen reinen Wellenberg aufgemacht habe. Der mehr historischer Wahrheit als der metaphorischen Welt zuneigende Rabulski war von soviel Überschwang, von dieser hochkulturell, also geradezu adlig wirkenden Herkunft derart irritiert, daß er sich gar nicht mehr zu trauen wagte, nach einem Nachnamen zu fragen. Doch einmal mehr, ohne daß diese Frage seinerseits gestellt worden wäre, beantwortete sie ihm die. Es möge unter Umständen gar etwas seltsam klingen, in dieser Kombination möglicherweise vielleicht auch komisch, aber ihre Mutter sei nunmal als Tochter des Mathematikers Immanuel Zweistein geboren worden. So säße also Sao Zweistein neben Didier Ryszard Rabulski, und mit dem stoße sie mit einem Rouge aus dem römischen Nîmes endlich auf eine gemeinsame Zukunft an, nachdem sie ihn vor etwa sechsundvierzig Jahren zumindest sinnbildlich aus dem Neckarnaß gesogen habe. Lange genug habe ihr gemeinsames Warten auf dieses endgültige Ereignis schließlich gedauert.
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Letzte Aktualisierung: 2014.02.12, 19:21 status
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