Der reine Berg
Mittwoch, 4. Dezember 2013

Beruferaten

Es sei mit Sicherheit etwas dabei, das auch seinem Geschmack entspräche.

Vor einem kleinen Ladengeschäft angekommen, das zweifelsohne bereits in der Auslage eher einer Pâtisserie seines Landes ähnelte als einer deutschen Konditorei mit ihrer doch recht eingeschränkten, mentalitäts- oder auch geschmackstypischen Auswahl an trockenen Kuchen, bat sie ihn, einen Moment zu warten, sie sei gleich zurück. Vielleicht gelüste ihn ja nach einer Zigarette, ja, für sie bestehe keinerlei Zweifel daran, daß er rauche, das könne er hier tun, denn innen sei das leider nicht gestattet. Das entspräche nicht dem reformatorischen Triebvermeidungseifer dieser neuen deutschen Welt, die alles, was sich Genüssen auch nur annähere, mittlerweile mit einem geradezu päpstlichen Bann belege, der Luthers Nachfolgeschaft in die Groteske setze. Sie als geborene Katholikin und Nichtraucherin dürfe das ohne weiteres behaupten. Im besonderen Letztgenannte seien geradezu die Fleischwerdung der Toleranz. À propos Fleisch. Das ihre sei Gemüse. Sprach's und entschwand durch den Eingang hin zu Lukulls Crèmetörtchen.

Als ob nichts Absonderliches geschehen wäre, als ob er nie anderes getan hätte als auf seine Gefährtin seit Jahrzehnten zu warten, die einmal wöchentlich ihren Bedarf an Leckereien deckte, den er nicht zu erfüllen schien, zündete er sich eine Tiefschwarze an. Er führte sie immer auf Vorrat mit, wenn er die Grenzen nach Deutschland oder in andere Hoheitsgebiete überschritt. Eigentlich rauchte er sehr viel lieber wie früher die gelbliche Boyard, eine papier maïs, mit etwas mehr Umfang als die ansonsten gebräuchlichen Zigaretten. Doch selbst die müßte er mittlerweile aus der Schweiz einführen, das war ihm dann doch zu umständlich, zudem der Geschmack nicht dem alten französischen entspricht. Die deutschen Zigaretten sagten ihm geschmacklich überhaupt nicht zu.

Die kurze Pause in der vorausgegangenen Atemlosgkeit des Geschehens ließ ihn zu Gedanken kommen. Er war zwar voller Verwunderung über das, was ihm seit kurzem geschah, dachte aber, wohl bedingt durch seine Faktenorientiertheit, in erster Linie darüber nach, was sie damit gemeint haben könnte, sie kenne ihn, habe sich gar ein Bild von ihm gemacht. Wie sollte das möglich gewesen sein? Wo sollte das möglich gewesen sein? Er lebte zwar ebenfalls in der Nähe des Rheins, jedenfalls nicht allzu weit weg von diesem großen Fluß, den einige Länder für sich in Anspruch nahmen, aber eben doch um einiges weiter südlich, eben nicht am nördlichen Niederrhein in der Nähe der Grenze zu den Niederlanden, und in Deutschland hielt er sich lediglich zu Gerichtsterminen oder der einen oder anderen Veranstaltung zu Fragen der Rechtsphilosophie auf. Auch vermied er es, sich im Internet zu tummeln, also zu surfen, wie das in der Sprache der neuen Welt genannt wurde. Sicherlich konnte auch er nicht auf diese Technik der doch recht rasch und unkompliziert erreichbaren Informationen verzichten. Aber einschlägige Seiten mied er. Die waren ihm unangenehm bis zuwider, zu viel Negatives hatte er darüber gehört und auch gelesen. Und daß sie beruflich miteinander zu tun gehabt haben könnten, das erschien ihm unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Diese Frau konnte keine Kollegin sein. In den Jahrzehnten seiner Berufserfahrung war ihm eine solche Erscheinung noch nie begegnet. Die Frauen seines Berufsstandes hatten durchweg einen eher negativen Eindruck bei ihm hinterlassen. Sicher, zu einem näheren, gar persönlichen Kontakt zu einer Juristin war es nie gekommen. Doch seine Menschenkenntnis forderte das Urteil heraus, bei dieser Frau könne es sich nur um eine Buchhändlerin oder möglicherweise eben noch um die Lektorin eines Verlages handeln, eines literarischen vielleicht, gegebenfalls einem für Kinderbücher. Ein Zugang zu dieser Welt fehlte ihm zwar völlig, da er keinerlei Erfahrung mit dem, im Gegensatz zu ihm, von vielen Menschen ersehnten Nachwuchs hatte, doch er hörte immer wieder davon, auch diese würden der Literatur zugeordnet.

Nach dieser für ihn nahezu unumstößlichen Feststellung öffnete sich die Ladentür, und die Erscheinung ging direkt auf ihn zu, hakte ihn wiederum unter und führte ihn bald aus dieser äußerst unangenehmen sogenannten Fußgängerzone heraus. In die hineingeraten war er lediglich, da ihm sein Rasierwasser ausgegangen war und man ihm an der Hotelrezeption gesagt hatte, das von ihm bevorzugte, seit bestimmt dreißig Jahren benutzte er ausnahmslos das dieses Herstellers, sei sicherlich in einer Parfumerie erhältlich, die über eine beträchtliche Auswahl hochwertiger, vor allem klassischer Duftwässer verfüge, und die lag nunmal in dieser an und für sich architektonischen sowie städteplanerisch unangenehmen, wenn nicht gar widerwärtigen Umgebung, in der nicht mehr eingekauft, sondern geshopt wurde. Aber nun, diese Atmosfaire le shopping gab es im heimatlichen Nancy auch. Allerdings war er dort nicht gezwungen, sie aufzusuchen, um den einzigen Fremdgeruch zu erstehen, den er an sich heranließ.

Von seiner linken Seite her erreichte ein Duft seine durch das Rauchen ansonsten ziemlich lädierte, für Geruchsempfindlichkeit zuständige sogenannte jakobsche Organ in der Nasen-scheidewand, der ihm seit etwa einer Stunde alles andere als fremd erschien.

 
Mi, 04.12.2013 |  link | (429) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Dienstag, 3. Dezember 2013

Begegnung

Es handelte sich tatsächlich um ein mädchenhaftes Gesicht.

Und tatsächlich, es lächelte, und ihm nicht nur etwa zu, sie ging auch einen Schritt in seine Richtung. Da stellte der rationaler Abstraktionen nicht gerade ungeübte Rabulski gerade noch rechtzeitig fest, diese Richtung sei auch keine andere als die zum Ausgang in die Fußgängerzone. Da tat er etwas, das er sich sein langes Leben lang noch nicht getraut hatte.

In diesem hatte er alles auf sich zukommen lassen. Es verhielt sich wie bei Katzen und Kindern. Obwohl er mit beiden Gattungen nicht sonderlich viel anzufangen wußte, kamen die ihm dennoch immer wieder entgegen. Jemanden anzusprechen, am Ende gar eine Frau, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Dazu war er zu zurückhaltend. Er war sich spätestens seit seiner späteren Jugend über die eigentliche Ursache im klaren; es war Schüchternheit. Mit den Jahren war es ihm gelungen, diese zu überspielen. Seine Tätigkeit als auch vor Gerichten agierender Rechtsanwalt machte diese Fähigkeit nicht nur erforderlich, sondern förderte über eine in der Sache logisch erscheinende wachsende Rhetorik hinaus auch sein Zugehen auf andere Menschen. Privat war diese Problematik allerdings aufgehoben, ging man doch wie vorbestimmt allzeit auf ihn zu.

Nun aber sah er sich gezwungen, einmal selbst tätig zu werden. Ihm schien es zudem als eine letzte Möglichkeit, auf eigene Inititiative hin eine Bekanntschaft zu machen, nicht zuletzt, da diese ihm im besonderen Maße reizvoll erschien. Und sei es, er holte sich ein Abfuhr. Er würde es ertragen, ertragen müssen. Allerdings hatte sein Streben nach Zukunft ohnehin seinen letzten Punkt erreicht. Die Lebensbahn bog gerade in die letzte Kurve ein, hinter der sich die Endstation ankündigte. Doch dieses Gesicht schien ihm eine andere Richtung zu signalisieren, ihn nachgerade aufzufordern, zumindest noch einmal Halt einzulegen. So stand er denn auf und ging, wenn auch zögerlich, ihr einen Schritt entgegen. Und ihr Lächeln hielt nicht nur an, es verstärkte sich noch. Ihre Richtung veränderte sich keinen Jota. Es war die zu ihm hin. Recht nahe kam sie ihm, blickte ihm in die Augen, jedoch auf eine andere Art, wie er sie aus seinem Land kannte, in dem es zur Höflichkeit gehörte, während eines noch so kurzen Gesprächs einander in die Augen zu schauen. Es war etwas, das er während seiner Aufenthalte in Deutschland so vermißte, ob momentan hier am Niederrhein unweit des niederländischen Westfrieslands oder in anderen Regionen, in denen er ebenfalls hin und wieder zu tun hatte, meist dann, wenn er als Spezialist für Asylrecht gefragt war oder auch schonmal in seinem auch privat bevorzugten Bereich der Rechtsphilosphie als Referent an Symposien teilnahm. Es war ein weiches, warmes Lächeln der Zuneigung, erzeugt von sanften Augen und überdies von einem ihn geradezu verzückenden außerordentlich großen Mund mit vollen Lippen, einer, den er sein Lebtag immer einmal geküßt haben wollte, der ihm jedoch nie entgegengekommen war in seinem mittlerweile durchaus bereits länger währenden Leben.

Sie stand vor ihm, nickte, ihr Lächeln beibehaltend, ihm zu und meinte, ihm eine ihn wohl bedrängende Frage beantworten zu müssen. Ja, sprach sie, sie sei noch frei. Worauf sie sich an seine linke Seite begab, ihn unterhakte und sanft die Richtung vorgab. Man müsse sich nicht auf einen Café oder ein Glas Rotwein bei Kerzenschein begeben, sie halte solcherlei ohnehin für mißverstandene oder triviale, banale, auf Zeichen für Analphabeten reduzierte Romantik. Sie verfüge nicht allzuweit entfernt über eine Wohnung. In der stünde alles bereit für ihrer beider Begegnung. Zwar begegneten sie einander heute zum ersten Mal persönlich, doch er sei ihr bereits seit einiger Zeit bekannt. Sie habe sich längst ein Bild von ihm gemacht.

Einen kleinen Augenblick müsse er sich allerdings noch gedulden. Ein paar Schritte weiter befände sich ein kleine Pâtisserie, sie sagte tatsächlich Pâtisserie und nicht Konditorei, dort müsse sie noch ihre Ration feine Törtchen abholen. Es sei mit Sicherheit etwas dabei, das auch seinem Geschmack entspräche.

 
Di, 03.12.2013 |  link | (431) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Freitag, 29. November 2013

Erleuchtende Erscheinung

Er mußte sich setzen. Die fremde Stadt setzte ihm zu. Dabei war sie gar nicht so fremd. Oder vielleicht doch. Er meinte sie zwar genau zu kennen. Doch solche Zentren von scheinbaren Metropolen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Es war letztlich unbedeutend, innerhalb welcher Landesgrenzen, in welcher Geographie man sich befand, es konnte sowohl der Süden als auch der Norden, der Westen oder der Osten sein, sie waren überall gleich ab- oder nachgebildet. Nicht einmal an den Beschriftungen der Auslagen war ersichtlich, wo man sich befand. Man konnte sich sowohl in Dänemark, England als auch in Frankreich befinden. Hier, während seines Aufenthalts in einer niederrheinischen Stadt der Größe, die man in Deutschland, wie er in dem von ihm besuchten und von der unweit ihren Sitz habenden Baumeistergilde gemeinsam mit dem örtlichen Psychologenverband veranstalteten Symposium über Psychosomatische Störungen bei Architekten durch Gegenfußläufigkeiten erfuhr, handelte es sich um ein sogenanntes Mittelzentrum. Das neuere sprachmodische Schlagwort war Solde, und das, obwohl man sich in deutschen Landen mittlerweile des über das Hugenottische oder Napoleonische eingeführte Französischen entwöhnt hatte, entwöhnt worden war; das US-Anglische hatte den Fremdwortbereich, wenn nicht gar die gesamte Sprache nahezu vollends übernommen. Vermutlich hatte ein Schaufensterdekorateur in Frankreich geurlaubt oder war auf dem Weg nach Andalutschia shopbummelnd durch einige Städte gecruist und fand diesen Ausverkaufsbegriff schick. Wie chic gleich élégant.

Auch wenn man sich inmitten des spätherbstlichen Weihnachtsverkaufszaubers befand: Alles muß immer irgendwie raus, und möglichst rasch wiederkennbar sowie fußläufig erreichbar sollte es sein. Der Mensch scheint sie zu benötigen, diese Art von Gleichförmigkeit, Einheitlichkeit, die ihm vermutlich Heimat vermittelt. Egal, ob Satellitenstadt oder Campingplatz, ob karibischer oder südseeischer Urlaubsort oder ein solcher in den niederländischen Alpen. Hauptsache, man findet rechtzeitig den Lichtschalter, auf daß einem ein Licht aufgehe. Oder an, es hat die gleiche, wenn nicht gar dieselbe Funktion. Man fühlt sich unwohl in einer Fremde, die dem Zuhause nicht zumindest ähnelt.

Seine fortgeschrittene Betagtheit hatte ihm zugesetzt. Die frühere durchaus sportiv zu nennende Beweglichkeit war über die letzten beiden Jahrzehnte dahingeschieden. Also setzte er sich hin. Den Setzer nannten sie ihn mittlerweile zuhause in seinem dort nicht derart bezeichneten Oberzentrum Nordostfrankreichs, derjenige, der sich immerfort hinsetzen mußte. Da saß er nun, inmitten der kalten Umgebung, wenige Grade über Gefriernull. Es war gleich, wichtig war es ihm, kurz ausruhen zu können. Das hektische Gerenne um ihn herum berührte ihn, der solches konsumistisches Innenstadtgehaste nicht ausstehen konnte, dennoch nicht weiter. Es hatte in erster Linie seine Ursache in einer Erscheinung, die den Brennpunkt seines restvermögenden, vom grauen Altersstar reduzierten Blickes gebildet hatte. Es gehörte offensichtlich zum Hinterkopf einer Dame, die extrem müde schien. Sie stand unweit seines Sitzortes an der Theke einer Bäckerei. Am Tresen schien sie sich festzuhalten, wie eine langgeübte, aber mittlerweile überforderte Trinkerin in einer ihr fremden Kneipe. Er nahm diesen Schopf zunächst wahr, als ob er kürzlich einem Fachgespräch unter Damen gelauscht hätte. Wie, hörte er sich er in den Friseursalon hinein fragen, konnte selbst ein ausgewiesener Könner seines Fachs eine solche Haarfarbe gemischt, sie überhaupt gestaltet bekommen haben? Doch dieser leuchtend hellgraue Schopf, der konnte zu keiner dieser Art von kreativen Schöpfungen eines Coiffeurs gehören. Hinzu kam die Länge des Haars, überhaupt die Frisur, die ihn in ihrer Form an eine Buchhändlerin erinnerte, die nahezu ihre gesamte Freizeit innerhalb eines Chors für hugenottische Gesänge verbrachte und die sich als untypisch bezeichnen ließe für ein Alter, das er daraus zu folgern schien. Er war sich beinahe sicher, es könnte sich um keine dieser Frauen handeln, die bereits frühmorgens begannen, sich in einem Frisiersalon mit einem Fläschchen Schaumwein den anfänglichen Tag zu versüßen. Und genau in diesem Augenblick drehte sie ihren Kopf zur Seite, als ob sie seine wahrneh-mungsphilosopischen Nachdenkereien gespürt hätte. Er meinte, ein leichtes Lächeln, möglicherweise gar zu ihm hin, vernommen zu haben.

Es handelte sich tatsächlich um ein mädchenhaftes Gesicht. Gleich einem Schlag in seine Gehirnwindungen wurden ihm seine fortgeschrittenen Jahre bewußt. Dies war eine Welt, die sich längst von ihm abgewandt hatte.

 
Fr, 29.11.2013 |  link | (812) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Letzte Aktualisierung: 2014.02.12, 19:21
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