Der reine Berg

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Freitag, 29. November 2013

Erleuchtende Erscheinung

Er mußte sich setzen. Die fremde Stadt setzte ihm zu. Dabei war sie gar nicht so fremd. Oder vielleicht doch. Er meinte sie zwar genau zu kennen. Doch solche Zentren von scheinbaren Metropolen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Es war letztlich unbedeutend, innerhalb welcher Landesgrenzen, in welcher Geographie man sich befand, es konnte sowohl der Süden als auch der Norden, der Westen oder der Osten sein, sie waren überall gleich ab- oder nachgebildet. Nicht einmal an den Beschriftungen der Auslagen war ersichtlich, wo man sich befand. Man konnte sich sowohl in Dänemark, England als auch in Frankreich befinden. Hier, während seines Aufenthalts in einer niederrheinischen Stadt der Größe, die man in Deutschland, wie er in dem von ihm besuchten und von der unweit ihren Sitz habenden Baumeistergilde gemeinsam mit dem örtlichen Psychologenverband veranstalteten Symposium über Psychosomatische Störungen bei Architekten durch Gegenfußläufigkeiten erfuhr, handelte es sich um ein sogenanntes Mittelzentrum. Das neuere sprachmodische Schlagwort war Solde, und das, obwohl man sich in deutschen Landen mittlerweile des über das Hugenottische oder Napoleonische eingeführte Französischen entwöhnt hatte, entwöhnt worden war; das US-Anglische hatte den Fremdwortbereich, wenn nicht gar die gesamte Sprache nahezu vollends übernommen. Vermutlich hatte ein Schaufensterdekorateur in Frankreich geurlaubt oder war auf dem Weg nach Andalutschia shopbummelnd durch einige Städte gecruist und fand diesen Ausverkaufsbegriff schick. Wie chic gleich élégant.

Auch wenn man sich inmitten des spätherbstlichen Weihnachtsverkaufszaubers befand: Alles muß immer irgendwie raus, und möglichst rasch wiederkennbar sowie fußläufig erreichbar sollte es sein. Der Mensch scheint sie zu benötigen, diese Art von Gleichförmigkeit, Einheitlichkeit, die ihm vermutlich Heimat vermittelt. Egal, ob Satellitenstadt oder Campingplatz, ob karibischer oder südseeischer Urlaubsort oder ein solcher in den niederländischen Alpen. Hauptsache, man findet rechtzeitig den Lichtschalter, auf daß einem ein Licht aufgehe. Oder an, es hat die gleiche, wenn nicht gar dieselbe Funktion. Man fühlt sich unwohl in einer Fremde, die dem Zuhause nicht zumindest ähnelt.

Seine fortgeschrittene Betagtheit hatte ihm zugesetzt. Die frühere durchaus sportiv zu nennende Beweglichkeit war über die letzten beiden Jahrzehnte dahingeschieden. Also setzte er sich hin. Den Setzer nannten sie ihn mittlerweile zuhause in seinem dort nicht derart bezeichneten Oberzentrum Nordostfrankreichs, derjenige, der sich immerfort hinsetzen mußte. Da saß er nun, inmitten der kalten Umgebung, wenige Grade über Gefriernull. Es war gleich, wichtig war es ihm, kurz ausruhen zu können. Das hektische Gerenne um ihn herum berührte ihn, der solches konsumistisches Innenstadtgehaste nicht ausstehen konnte, dennoch nicht weiter. Es hatte in erster Linie seine Ursache in einer Erscheinung, die den Brennpunkt seines restvermögenden, vom grauen Altersstar reduzierten Blickes gebildet hatte. Es gehörte offensichtlich zum Hinterkopf einer Dame, die extrem müde schien. Sie stand unweit seines Sitzortes an der Theke einer Bäckerei. Am Tresen schien sie sich festzuhalten, wie eine langgeübte, aber mittlerweile überforderte Trinkerin in einer ihr fremden Kneipe. Er nahm diesen Schopf zunächst wahr, als ob er kürzlich einem Fachgespräch unter Damen gelauscht hätte. Wie, hörte er sich er in den Friseursalon hinein fragen, konnte selbst ein ausgewiesener Könner seines Fachs eine solche Haarfarbe gemischt, sie überhaupt gestaltet bekommen haben? Doch dieser leuchtend hellgraue Schopf, der konnte zu keiner dieser Art von kreativen Schöpfungen eines Coiffeurs gehören. Hinzu kam die Länge des Haars, überhaupt die Frisur, die ihn in ihrer Form an eine Buchhändlerin erinnerte, die nahezu ihre gesamte Freizeit innerhalb eines Chors für hugenottische Gesänge verbrachte und die sich als untypisch bezeichnen ließe für ein Alter, das er daraus zu folgern schien. Er war sich beinahe sicher, es könnte sich um keine dieser Frauen handeln, die bereits frühmorgens begannen, sich in einem Frisiersalon mit einem Fläschchen Schaumwein den anfänglichen Tag zu versüßen. Und genau in diesem Augenblick drehte sie ihren Kopf zur Seite, als ob sie seine wahrneh-mungsphilosopischen Nachdenkereien gespürt hätte. Er meinte, ein leichtes Lächeln, möglicherweise gar zu ihm hin, vernommen zu haben.

Es handelte sich tatsächlich um ein mädchenhaftes Gesicht. Gleich einem Schlag in seine Gehirnwindungen wurden ihm seine fortgeschrittenen Jahre bewußt. Dies war eine Welt, die sich längst von ihm abgewandt hatte.

 
Fr, 29.11.2013 |  link | (809) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Letzte Aktualisierung: 2014.02.12, 19:21
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