Der reine Berg

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Freitag, 6. Dezember 2013

Schwindelnder Anstieg

Von seiner linken Seite her erreichte ein Duft seine durch das Rauchen ansonsten ziemlich lädierte, für Geruchsempfindlichkeit zuständige sogenannte jakobsche Organ in der Nasenscheidewand, der ihm seit etwa einer Stunde alles andere als fremd erschien.

Was dies für für ein Duft sei, der sie leicht anwehe, fragte die Dame an seiner Seite, die sich mittlerweile als Stütze des körperlich zusehends verwelkenden Rabulski zu erweisen schien – der Wind mußte in diesem Augenblick vollends zu seinen Gunsten gedreht haben. Er sei der Anlaß einer un- oder auch außergewöhnlichen Begegnung, entgegnete er. Er allein habe ihn dazu bewogen, sich in die zentrale Unwirtlichkeit dieser kleinen Stadt im Nordwesten dieses ohnehin recht zugigen Landes zu begeben. Sie ließe sich auch als Nachweis einer Welt von Vorurteilen bezeichnen, denen auch diejenigen ausgeliefert zu sein scheinen, die sich selbst für die Inkarnation von Offenheit und Toleranz hielten, und das trotz der immer wieder gemachten Erfahrungen, die ihn in seiner geistigen Festgefahrenheit korrigiert hatten, nämlich die, Äußerlichkeiten allzu wesentliche Bedeutung zukommen zu lassen.

Ihm schien, als ob er sich seiner Gehhilfe entledigen könne, die er sich kürzlich zugelegt hatte, da ihm die Beinmuskulatur vollends abhanden gekommen war. Mit einem Mal sah er sich keinem dieser Ausfallschritte mehr ausgesetzt, nach denen Beobachter ihn, ohne Krücke gehend, für jemanden hielten, der sich bereits früh am Tag einem Rausch hingegeben hatte, der als Surrogat für sich nicht mehr ergebende, in ihn fahrende Träume diente. Seine Begegnung führte ihn zwar sanft, aber bestimmt in eine ihm völlig unbekannte Richtung. Er hatte nicht einmal den Anflug einer Vorstellung von dem, wohin das führen sollte, doch er spürte, wie er, der sich gegen jede Leitung durch andere augenblicklich auflehnte, wie gerne er sich von ihr führen ließ.

Sie gingen durch mittlerweile stillere Straßen, die zusehends weniger werdenden Menschen in ihnen waren bar jeder Hektik, wie sie diese Anderen ein paar Schritte nur entfernt an den späten Tag gelegt hatten, die sich in dieser anderen Ersatztrunkenheit befanden, in der des Verdrängens der Tatsache, daß es auch ein Leben ohne Tand auf technisch neuestem Stand gibt. Als er vor ungefähr dreißig Jahren begonnen hatte, an Symposien wie etwa Die Wahrnehmung der neueren Warenwirklichkeit und der sich daraus ergebenden juristischen Konseqenzen teilzunehmen, sollte er bald auf ein Ladengeschäft stoßen, über dessen Eingangstür man den Namen Frénésie de consommation in seinerzeit noch nicht allzu großbuchstabigen Lettern genagelt hatte, als ob es sich die These einer Reformation der hugenottischen Reformation handelte, mit der der Ablaßhandel wieder eingeführt worden wäre. Kurz darauf betrat er zu Studienzwecken ein am Rand des Zentrums einer süddeutschen Großstadt gelegene Institution, die sich Kaufrausch nannte, in der all das zu erstehen war, das der Mensch mit höchster anzunehmender Wahrscheinlichkeit nicht benötigte. Die niedliche Ente aus im wesentlichen naturbe-lassener, lediglich mit kindertauglichen Farben illustrierter Plastikmasse – damit kündigte sich eine neue Entwicklung an, die später den Titel Nachhaltigkeit tragen würde, ein aus dem Bergbau stammender Begriff aus der Epoche der Romantik, der von dem Ingenieur Freiherr von Hardenberg eingeführt worden sein dürfte –, an diesem entzückenden gelben Tierchen mit schwarzem Schnabel und rotem Pürzelchen konnte er dann doch nicht vorübergehen, ohne es zu kaufen. Auf diese Weise verschaffte er sich ein wenig Geselligkeit in den Badewannen der Hotels, die er häufig aufsuchte, da er sich in dem Element am wohlsten fühlte, aus dem er hauptsächlich bestand. In diesem Wasser ließ er sich allzu gerne untergehen, als ob er über Bord gegangen wäre, vermutlich in seinem Hoffnungstraum, eine der Nereïden könnte den Schiffbrüchigen erretten. Bei Platon, auch bei Homer in dessen Ilias, sehr viel intensiver allerdings bei Hesiod hatte er von diesen Nymphen gelesen, die ihm ein wohligeres Leben suggerierten als sein bisheriges, doch etwas trockeneres Dasein.

Während Rabulski sich so seinen Gedanken über die Welt des Olympischen und Halbgöttlichen hingab, seine Führerin schwieg beredt, als ob sie ihn in seinen Gängen durch sein heimliches Universum nicht unterbrechen wollte oder gar an ihnen teilnahm, stand er plötzlich vor einem Haus mit leicht klassizistischen Anleihen. Es dürfte sich um ein Gebäude aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts handeln, in denen sich die Architekten und Bauherren nur zu gerne solch historisierenden Attituden hingaben, mit denen sie offenbar die als Ungemach empfundene Moderne verdrängten. Seine Weggefährtin seit kurzem stieg die wenigen flachen Stufen eines in seinem Maß durchaus beachtlichen Eingangsportals hinauf, öffnete die Tür und bedeutete ihm, begleitet von einem freundlichen, geradezu liebevollen Lächeln und auffordernden Nicken, einzutreten. An den Treppenstufen angekommen, die er wortlos aufgefordert war, zu besteigen, schwindelte ihn leicht, und er sah sich gezwungen, sich am Geländer festzuhalten. Es handelte sich um einen dieser Anfälle, die er hin und wieder hatte, denen er jedoch, vermutlich, weil er seine altersbedingt verminderte körperliche Leistungsfähigkeit längst gewohnt war, keine weitere Bedeutung zumaß. Seine mittlerweile nahezu vertraute Begegnung veranlaßte es jedoch zu der Bemerkung, es existiere offensichtlich auch hierbei eine gewisse Nähe zwischen ihnen beiden. Auch bei ihr sei es so, daß ihr schwindelig würde, wolle sie hoch hinauf. Allein der Blick hin zu einem Berggipfel reiche aus, gewisse Ängste in ihr zu entwickeln. Deshalb meide sie jede Höhe, von der aus sie gezwungen sei, hinabzublicken.

 
Fr, 06.12.2013 |  link | (471) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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