Der reine Berg
Freitag, 3. Januar 2014

Frauen

Lange genug habe ihr gemeinsames Warten auf dieses endgültige Ereignis schließlich gedauert.

Rabulski hatte nie eine Frau, jedenfalls nicht diejenige, die in ihm das ausgelöst hätte, das gemeinhin als Passion bezeichnet wird. Er verfügte über gar keine Leidenschaft. Er lehnte ab, das ihm, wie der Volksmund behauptet, Leiden schuf. Er hatte sich ohnehin bald nicht mehr für Frauen interessiert, nachdem ihm dieser schöne Mund, den er so gerne geküßt hätte, verwehrt geblieben war. Die Sehnsucht nach ihnen, nach ihr hatte zwar nie nachgelassen, sich aber weitestensteils tief in ihm verborgen, sich nur hin und wieder hin und wieder gezeigt, hatte kurz oder zwischendrin auch mal wieder anhaltend zuckend, als ob sich ein leichter Schlaf mit anschließendem verführerischen Traum ankündige, aufgeleuchtet, wie eines dieser Wetterphänomene, die im hohen Norden, wohin ihn seine dilettantische im Sinne eines in seiner Freizeit Tätigen hin und wieder ebenfalls entsandte, des öfteren sichtbar werden, die allerdings realiter nichts ausmachen als Physik. Erscheinungen. Nun saßen gleich mehrere neben ihm. In ein- und derselben Person.

Begonnen hatte es mit jener, die sich unter einem nom de plume insofern an ihn gewandt hatte, als sie Interesse an seinen rechts-philosophischen Ausführungen oder -legungen verdeutlichte. Es setzte sich fort in einer Hinzugekommenen, die sich insofern unter anderem Namen in seine Privatsphäre quasi eingeschlichen hatte, als die sich nicht unterschied von seinem Arbeitsleben, unter dem Vorwand, die wenigen innerhalb des Internets, ungefragt, also ohne sein Zutun, durch eine dieser Public-Relations-Agenturen veröffentlichten Aufsätze zu kommentieren. Besondere Bedeutung maß Rabulski dem nicht bei, da es zu keinem weiteren Austausch kam. Zwar schien es sich um wissende Kommentare zu handeln, im Sinne des Begriffs Intel-lektualität zu verstehenden, also unterscheidungsbefähigten, die eine Diskussion hätte auslösen können, doch sie meldete sich nicht noch einmal zu Wort. Also geriet auch diese weibliche Absenderin rasch außerhalb seines gedanklichen Blickfeldes.

Weitere Pseudonyme gesellten sich zwar immer wieder hinzu, von denen er jedoch längst nicht mehr sicher war, ob es sich um solche oder gar um wirkliche Namen handeln könnte. Die nachfolgenden Kommentare zu seinen Ausführungen schienen ihm zudem von ihren Formulierungen her zu sehr auf ein- und dieselbe Person hinzudeuten, zudem schienen sie allzu bewußt kryptisch daherzukommen, als ob er als Adressat mit geheimen Botschaften eingedeckt werden sollte. Er ahnte etwas, verstand es jedoch nicht. Das Rätselhafte an sich war ihm als Jurist ohnehin fremd. Er selbst pflegte eine eindeutigere, deutlichere Sprache, gerade im klaren Hinblick auf seine rechts-philosophischen Bemühungen, die ihm etwaige Verklausulierungen untersagten. Gewiß hatte es seinen Reiz; wäre er selbst leidenschaftlicher beseelt gewesen von sprachlichen Spielereien, hätte es ein Entgegenkommen gegeben.

In etwa ließe er sich an einem Begriff festmachen, den, wie er später feststellen durfte oder auch mußte, sowohl geistig als auch räumlich weit entfernte, quasi über Grenzen hinweg, deutschsprachige Kommilitonen der Juristerei einst ersannen, den er leicht ungelenk, aber dennoch nicht ohne Charme mit baise d'esprit übertragen hatte: Kopfvögelei.

 
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Dienstag, 24. Dezember 2013

Alteuropäische Meerjungfrau

Und dieses feine Mädchen von damals saß nun sehr nahe an seiner Seite, rührte ihn wörtlich an, berührte ihn gar und sprach ihm gegenüber von einer nie sterbenden Jugend.

Aus seinen Erinnerungen zurückgekehrt, die in ihm, er vor sich hinstarrend, filmartig abgelaufen waren, drehte er sich zur Seite, zu ihrem Gesicht hin. Er nahm ein geradezu wissendes Lächeln wahr, dieser beinahe überbordend sinnliche Mund zeigte, weit über die insgesamt bereits verführerische Assymetrie der Physiognomie hinaus, die durchaus geeignet war, ein sich zusehends verinternationalisierendes weibliches Schönheitsideal zu bespötteln, eine verschmitzte, schmunzelnde leichte Schräge. Während er bereits wieder in den Strudelsog eines neuen, in diesen Gedankengang geriet, fiel Rabulski schlagartig ein, daß er noch nicht einmal den Namen seiner offensichtlich schicksalhaften Begegnung, dieser Erleuchtenden Erscheinung kannte. Vor einigen Stunden hatte sie ihn in ihr Reich geführt, entführt ließe sich nicht ernsthaft behaupten, war er ihr geradezu willenlos, eher vielleicht magisch oder manisch, auf jeden Fall sämtliche Vernunft außer Acht lassend, gefolgt, ohne sich also zumindest einen Faden legen zu lassen, etwa wie der von seiner Sekretärin Ariadne gelegte, der ihm eine Rückkehr aus diesem Labyrinth garantierte, in das er sich begeben hatte. Sie wußte seinen Namen, während er noch immer in wirren Ahnungen herumtaumelte, um wen es sich bei ihr handeln konnte. Er sprach sich schließlich eine gehörige Portion Mut zu und fragte sie, gleichwohl anders, leichter, geöffneter als bei seinen gewohnheitsgemäßen Zeugenbefragungen vor Gericht, er wolle nicht unhöflich sein, aber es dränge ihn doch arg: Ob er sie nach ihrem Namen fragen dürfe. Sicher doch, entgegnete sie heiter und fügte noch an, nein, das sei gewiß nicht unhöflich, in gewisser Weise habe er längstens ein Recht darauf. Und schwieg weiter, immer noch vor sich hinlächelnd. Er war nahe daran, unwirsch zu werden, als sie dann mit ihren leuchtenden Augen, die gleichwohl bereits unterseeische Dunkelheit andeuteten, in den seinen geradezu festmachten, jene, die den Tod durch Ertrinken anzeigten, die fast erloschen wirkten, und aus dem Mund, den er immer geküßt haben wollte, kam nur ein Wort: Sao.

Sao? fragte er verwundert nach. Eine solche Assoziation wäre ihm aber auch nicht nur annähernd zu Gedanken gekommen, zumal er keinerlei Anzeichen einer asiatischen Herkunft erkennen könne. Sicher hätten ihre Eltern einen Bezug zum fernen Osten gehabt, das sei unter Deutschen schließlich lange Zeit in Mode gewesen, man denke nur an Arthur Schopenhauer oder später Hermann Hesse. Letzterer habe sogar bis in die USA eingewirkt mit seinen Glasperlenenspielen, mit seinem vom großen Philosophen auf ihn einwirkenden Buch vom einsamen Steppenwolf, das bei diesen, wenngleich ohnehin mangels einer eigenen, also letztendlich von jeder Kultur befreiten, Amerikanern geradezu kultisch verehrt worden war und wohl immer noch werde. Japanische Einflüsse verbinde er eventuell mit diesem Namen, gewiß aber die Weisheiten des Tao te King. Der kam ihm in Erinnerung, aber auch nur, weil er sich innerhalb einer heftigen Debatte um Göttlichkeiten anderen gegenüber einmal darüber lustig gemacht hatte: »Es gibt ein Wesen, unbegreiflich, vollkommen, vor Himmel und Erde entstanden, So still!, so gestaltlos! Es allein beharrt und wandelt sich nicht. Durch alles geht es und gefährdet sich nicht. Man kann es ansehen als der Welt Mutter. Ich kenne nicht seinen Namen. Bezeichne ich es, nenne ich es: TAO.«

Seine sarkastischen Anflüge ignorierend schüttelte sie verneinend leicht ihren Kopf, der von leuchtendem Hell, nein, nicht illuminiert und schon überhaupt nicht illustriert, sondern krönend eingerahmt wurde, als handele es sich um eine altägyptische Untermalung von Schönheit. Nein, das sei durch und durch, urgründlich europäisch, gehe man davon aus, daß beispielsweise auch der europäische Stier aus Griechenland stamme, das, nebenbei erwähnt, zudem Vorbild sei für die Idee aktueller oder auch, im Sinne medizinischen Vokabulars, akuter Staatsformen. Wie der Stier Europa wurzele auch ihr Name in der griechischen Mythologie. Ihre Mutter, die sie recht spät, in einem Alter, in dem zu früheren Zeiten bei anderen Frauen sich bereits das Klimakterium andeutete, ohne männlichen Beistand gebärt und anschließend großgezogen habe, sei immer an kulturellen Erscheinungen, sei es an der Tragödie als Vorläufer heutigen Theaters oder an den Chören, die auch als ein Weg der Musik beschrieben werden könnten, also insgesamt an diesen Bildern der Entstehung der Welt interessiert gewesen. Sie sei als Sao eine der Nereïden und nach Hesiod als Retterin bekannt. Der vielzitierte und hochgelobte Homer erwähne sie in seiner Ilias nicht einmal. Diese Nymphen seien Töchter von Nereus, dem Sohn der Gaia und des Pontos und der Doris, der Tochter des Okeanos. Nach dieser Mutter würden sie auch Doriden genannt. Sie seien Beschützerinnen der in Seenot Geratenen. In Begleitung des Poseidon erheitere sie oft die Menschen der See mit ihrem Spiel. Oder sie begleiteten Amphitrite, selbst eine Nereïde, wenn die in ihrem Muschelboot über die Wellen reise. Sie, Sao, sei also westliche alte Welt, sie sei vor allem Symbol und Wahrzeichen für die Errettung Ertrinkender, man könne Sisyphos beispielhaft heranziehen, der sich mit einem Fels am Fuß zum Surfen auf einen reinen Wellenberg aufgemacht habe.

Der mehr historischer Wahrheit als der metaphorischen Welt zuneigende Rabulski war von soviel Überschwang, von dieser hochkulturell, also geradezu adlig wirkenden Herkunft derart irritiert, daß er sich gar nicht mehr zu trauen wagte, nach einem Nachnamen zu fragen. Doch einmal mehr, ohne daß diese Frage seinerseits gestellt worden wäre, beantwortete sie ihm die. Es möge unter Umständen gar etwas seltsam klingen, in dieser Kombination möglicherweise vielleicht auch komisch, aber ihre Mutter sei nunmal als Tochter des Mathematikers Immanuel Zweistein geboren worden. So säße also Sao Zweistein neben Didier Ryszard Rabulski, und mit dem stoße sie mit einem Rouge aus dem römischen Nîmes endlich auf eine gemeinsame Zukunft an, nachdem sie ihn vor etwa sechsundvierzig Jahren zumindest sinnbildlich aus dem Neckarnaß gesogen habe. Lange genug habe ihr gemeinsames Warten auf dieses endgültige Ereignis schließlich gedauert.

 
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Donnerstag, 19. Dezember 2013

Die Feine

Er sei noch immer der melancholisch-fröhliche junge Mann von damals, der neckarnaß neben der alten Brücke dem Fluß entstiegen war. Zwar sei er mittlerweile offensichtlich ein wenig müde geworden von seinem bisherigen Leben des andauerenden Schwimmens. Doch nun gebe es ein neues. Nun dürfe er sich ausruhen. Bei ihr. Mit ihr, im wässrigen Element. In dem sterbe die Jugend nie.

Fröhlicher junger Mann? Damit konnte er schwerlich gemeint sein. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ein solcher gewesen zu sein. Und Neckarnaß? Was war das für ein Wort? Was konnte damit gemeint sein? Er rätselte still vor sich hin, über seine ihm mittlerweile leicht seltsam vorkommende Begegnung. Doch mit einem Mal begannen laufende Bilder der Langzeiterinnerung in Rabulskis Kopfkino anzulaufen,

"Neckarnaß." In fast jugendlichen Jahren verbrachte er eine kurze Zeit an diesem behäbig dahinfließenden Flüßchen unterhalb dieser überwiegend von US-amerikanischen, biergeölten Touristenstimmen vielbesungenen Städtchens. Kommilitonen seiner juristischen Fakultät hatten ihm von dieser Stadt vorgeschwärmt, die auch die Feine genannt wurde. Der Hauptgrund für die Reise der anderen dorthin dürfte allerdings die Möglichkeit gewesen sein, dort günstig das einkaufen zu können, das anderswo nicht erhältlich war, schon gar nicht im heimatlichen Frankreich. Heidelberg war von Uniformierten beherrscht, die, obwohl es von den Oberen nicht sonderlich gern gesehen worden war, recht gerne Kontakt zu Einheimischen suchten und denen, quasi als Beweis einer unerfindlichen Freundschaft, die Möglichkeit boten, gemeinsam mit ihnen die PX aufzusuchen, wo sehr preisgünstig beispielsweise dieser scheußliche Bourbon-Whisky sowie diese Pall Mall-Zigaretten zu erstehen waren, die als höchstes Gut empfunden worden sein mußten, selbst oder gerade im Land gehaltvollen Weingeistes und geschmackvoller Gauloises oder Gitanes. Am Eingang zu diesem eigentlich nur für US-Soldaten, zumindest aber amerikanische Staatsbürger zugänglichen Supermarket wurde nicht geprüft, welcher Nationalität die zugelassenen Gäste entstammten. Und so nutzten viele seiner Bekannten (Freunde hatte er zu dieser Zeit bereits kaum) immer wieder die Möglichkeit ins von Strasbourg aus nicht allzu weit entfernte merry old Heidelberg, die Foine zu reisen und sich via grenzenloser Freundschaft diese wundervolle Konsumwelt des american way of culture zunutze zu machen.

Er fuhr zwar nicht des Einkaufens wegen, sondern aus Interesse an Deutschland dorthin mit, doch dieses eine und einzige Mal hielt ihn dann doch tatsächlich gleich etwas länger im romantischen Städtchen fest, nicht zuletzt, da sich dort einige angenehme Lokalitäten befanden, die durchaus mit den heimatlichen Sitten des miteinander Plauderns während des Trinkens vergleichbar waren. Im Weinloch beispielsweise stand der Gendarm neben dem Routier neben dem Professeur auch des nichtspirituösen Geistes an der Theke, und Rabulski trank, wie zuhause, das Viertelliter-Glas Wein zu einem Preis in deutschen Pfennigen, der etwa neunzig oder gar nur achtzig Centimes entsprach. Doch auch anderenorts, so etwa in einer kleinen Gaststätte gegenüber der großen Kirche neben einer Art Marktplatz fand er angenehme Gesellschaft, darunter ein Medizinerpaar, das ihm sein nahegelegenes Heim kostenlos zum Nächtigen anbot. So blieb er etwa drei Wochen.

Sehr gerne hielt er sich während dieser Tage am und im Neckar auf. Unweit der Alten Brücke befand sich ein vom Schiffsverkehr abgesperrtes Freibad, was der junge, finanziell schon elterlicherseits nicht übermäßig gut ausgestattete französische Bollag Rabulski jedoch nicht nur aus Kostengründen nicht nutzte, sondern weil es weitaus freundlicher und erheiternder war, mit anderen im eigentlich verbotenen freien Teil des Flusses zu baden. Und zudem bekam er immer wieder einmal kostenlose Nahrung ab, denn vor allem in den frühen Morgenstunden hielten sich unter der Brücke einige Angler auf, die in großen Mengen Aale aus dem Fluß zogen. Wenn die sich am Vormittag wieder nachhause aufmachten, oftmals mit zwei gefüllten Eimern voll dieser schlangenartigen Fische, hüpfte manch einer von denen aus seinem engen Gefängnis in die vermeintliche Freiheit und biß dort ins Gras.

Einen dieser bereits leicht angetrockneten, also nicht mehr ganz so schlüpfrigen Fische bekam er einmal mit der Hand zu fassen, ohne daß er ihm entglitt. Er wollte ihn dem Fluß zurückgeben, nicht unbedingt, weil er ein allzu ausgeprägter Tierfreund gewesen wäre. Aber er hatte ohnehin keinen Topf oder eine Pfanne, geschweige denn eine Feuerstelle zur Verfügung. Da wollte er ihn lieber in sein angestammtes Schlammreich zurückgeben und ihn wenigstens noch ein Weilchen weiterleben lassen. Doch aus ihm unerklärlichen Gründen schwamm er mit dem Aal, der sich ohnehin kaum nach einer Wiederbelebung zurückzusehnen schien, in der Hand zur anderen Seite des nicht allzu breiten Flusses. Was er ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt dort drüben am Ufer unterhalb des Hölderlin-Weges, in dieser sogenannt besseren Wohngegend wollte, war ihm nicht bewußt. Zu diesen Vormittagsstunden waren allenfalls hin und wieder junge Mütter unterwegs, die ihre frisch aus ihnen geschlüpfte Brut in Kinderwagen spazierend durch die Romantik dieser Flußlandschaft schaukelten. Die interessierten ihn, dem diese Frauen allesamt zu unreif waren, so wenig wie ihr Nachwuchs, dem er ebenfalls nichts abgewinnen konnte. Er hatte seinerzeit wie auch später nie wieder das Verlangen, sich zu reproduzieren und schon überhaupt nicht, anderen bei deren mehr oder minder als gelungen zu bewertenden umgesetzten Zuchtversuchen zuzuschauen.

Doch eine Dame ging dort ihres Weges, die ihre Aufmerksamkeit auf ihn zog. Sie befand sich in eindeutig fortgeschritteneren, also in für seine erotischen Phantasien sehr viel attraktiveren Jahren. Sie wirkte trotz der geschätzten vollendeten Vierzig dennoch ungemein jugendlich frisch, was durchaus daran gelegen haben könnte, daß es sich um eine dieser dort ihren Nachwuchs ausfahrenden jungen Mütter handeln konnte, denn auch sie schob einen Kinderwagen vor sich her. So wagemutig, wie er später nie wieder sein sollte, ging er auf sie zu, um sie, wie auch immer, anzusprechen. Sie nahm sein Kommen wahr, lächelte ihn an und fragte, ob er der neue Fischverkäufer sei und fügte dankend hinzu, sie esse jedoch keinen Aal oder sonstiges Getier. Dann erst stellte er fest, das mittlerweile leblose Wassertier noch immer in der Hand zu halten. Doch die freundliche Ansprache ermutigte ihn, und so trat er einige weitere Schritte an die Frau und den Kinderwagen heran.

In ihm lag ein entzückendes Mädchen, in dessen Gesicht sich bereits ein Mund andeutete, den er Zeit seines Lebens so gerne geküßt hätte, der ihm jedoch immer verwehrt geblieben war. Es zeigte sich jedoch keineswegs, wie er zunächst vermutet hatte in seinem Ulkwillen, erschreckt von dem einst schlangenwindeligen, aber nun erschlafften Fischgebilde, sondern lächelte wie Madame Maman. Wäre es bereits in der Lage gewesen, etwas in Worte fassen zu können, es hätte ihm vermutlich entgegnet: sie äße keinen Fisch und auch kein sonstiges Getier.

Und dieses feine Mädchen von damals saß nun sehr nahe an seiner Seite, rührte ihn wörtlich an, berührte ihn gar und sprach ihm gegenüber von einer nie sterbenden Jugend.

 
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Mittwoch, 11. Dezember 2013

Wirkliche Wahrheit

Es sei sehr viel weniger geheimnisvoll, als er vermutete. Es sei nichts als schnöde Wirklichkeit, die der Wahrheit auch nicht nur annähernd gleichkomme.

In die Augen wollte er ihr schauen, in sie eindringen, an die Wahrheit gemahnend, an die der Fakten, die sie ihm gleichermaßen ankündigte. Doch Rabulskis Blick wurde abgelenkt. Es war ein seit Jahrzehnten nicht aufzuhaltender Prozeß, über den er sich immer wieder ärgerte, wahrscheinlich weniger, weil er ihm unangenehm, sondern eher, da es ihm peinlich war, dabei eventuell ertappt worden zu sein. In den Ausschnitt ging sein Blick. Er war sich nie sicher, ob er dabei an seiner Madame Mére Brüste dachte, die er als Kleinstkind nie genießen durfte, da die Mutter nie ihrer Schönheit verlustig gehen wollte, oder er einer vermutlich typisch männlichen Blickrichtung unterlag. Dieser mannhaften Art von Wahrnehmung wollte er sich keinesfalls unterordnen. Und doch war er dagegen wehrlos. Also zwang er sich einmal mehr, seinen Blick aufzuheben. Dennoch erreichte er die Augen seiner rätselhaften Begegnung nicht sofort. Er blieb an einer seitlichen Erscheinung hängen.

Pattes d'oie, die Deutschen nennen sie Krähenfüße. Welch eine unsägliche Metapher für zaubervolle Gebilde, die vom Lächeln, von Lachen kreiiert worden sind, und derentwegen sich viele Frauen Gift einspritzen lassen. Um ihre Freude am Leben zu kaschieren. Die neben ihm sitzende Frau war, das war ihm längst deutlich geworden, weit entfernt davon, auch nur daran zu denken, sich ihren Körper zu deformieren, um den Schein einer edlen Einfalt vorzutäuschen, die jeweiligen Schönheitsidealen unterlag. Sie würde, da war er sich sicher, ihre Identität bewahren.

Seiner Identität, hob sie mit ihrer Wirklichtkeitsdarstellung an, sei sie gewahr geworden über eine Seite im Internet, die Veranstaltungen zur Juristerei ankündige. Darin sei vor einiger Zeit ein Vortrag mit ihm als Redner angekündigt worden, der hier in der niederrheinischen Stadt stattfinden würde und der unter anderem eine Photographie von ihm beigefügt war. Die rigide Thematik des Symposions Psychische Störungen aufgrund familiarer Problemata in Einwanderungsgesellschaften habe sie nicht nur als Juristin interessiert, sondern auch, weil sie schlicht nicht glauben wollte, bei dem Vortragenden könne es sich ebenfalls um einen Advokaten handeln. Sie habe, um im Fachjargon der Wirklichkeit zu bleiben, dem sie sich nun unter Kollegen temporär zuwende, da sie sich der Wahrheit und damit sich beiden immer näher komme, gemutmaßt, er sei einer dieser leicht irrweggeleiteten Psychologen, wenn nicht gar ein Psychiater, die sich mit den Rechten und der sich um sie rankenden Philosophie beschäftigen. Das habe sie veranlaßt, sich bei dieser Veranstaltung anzumelden und auch daran teilzunehmen. Sie sei diejenige in der ersten Reihe gewesen, die er geweckt habe mit seiner Äußerung, nicht jede noch so kluge Rede sei in der Lage, Menschen wachzuhalten. Aber immerhin könnte eine solche derart wahrgenommen werden, habe er hinzugefügt, nachdem sie erschreckt aufgewacht sei, eventuell zuweilen bewirken, erweckt zu werden. Und das sei nicht im Sinne irgendeines Glaubens gemeint, der schließlich nichts anderes bedeute als nicht zu wissen. Bedankt habe er sich dann noch für ihre Aufmerksamkeit. Und tatsächlich sei sie seither nie wieder eingeschlafen bei seinen Vorträgen, und seien sie noch so langweilig gewesen, auch nicht während seiner ausschweifenden Diskussionsbeiträge, die ihm den zweifellos zweifelhaften Ruf eines Überanmerkers eingebracht habe, selbst nicht bei seinen essayistischen Bemühungen, die sie ausschließlich gelesen habe. Sie sei sich darüber klar geworden, es handele sich bei ihm zwar um eine gewisse Theorielastigkeit, jedoch um eine reparable. Unter anderem aus diesen Gründen säße er nun hier. Bei ihr. An ihrer Seite. Ihn zu reparieren, diese Absicht hege sie keineswegs. Er sei ohnehin irreparabel. Nun habe das, was viele Menschen Schicksal nannten, ihn bei ihr angelandet.

Und überhaupt und dieses Mal nicht etwa nebenbei: Lebensweg. Der habe sie beide schon sehr früh zueinandergeführt. Kürzlich habe während eines Gesprächs mit ihrer Mutter, die nur noch über ein Langzeitgedächtnis verfüge, auch das ihre eingesetzt. Mit einem Mal habe sie sich des Bildes eines jungen Mannes erinnert, der seinerzeit mit beglücktem Gesicht in den Kinderwagen hineinblickte, in dem sie lag, und mit einem frisch von Hand gefangenen Aal winkte. Ihre Mutter sei mit ihr am Heidelberger Neckarstrand unterhalb des Hölderlin-Weges spazierengefahren; eine Art Ehrerbietung gegenüber dem intellektuell bestechenden Schöpfer unter anderem der Blauen Blume der Romantik. Zwar habe sie als Einjährige, das aber nur nebenbei, damals beschlossen, Vegetarerin zu werden. Aber sein Gesicht habe festgemacht in ihr, weshalb sie ihn in dem Veranstaltungsprospekt auch sofort wiedererkannt habe.

Er habe sich nur wenig verändert. Er sei noch immer der melancholisch-fröhliche junge Mann von damals, der neckarnaß neben der alten Brücke dem Fluß entstiegen war. Zwar sei er mittlerweile offensichtlich ein wenig müde geworden von seinem bisherigen Leben des andauerenden Schwimmens. Doch nun gebe es ein neues. Nun dürfe er sich ausruhen. Bei ihr. Mit ihr, im wässrigen Element. In dem sterbe die Jugend nie.

 
Mi, 11.12.2013 |  link | (814) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Samstag, 7. Dezember 2013

Geheimnisse

Allein der Blick hin zu einem Berggipfel reiche aus, gewisse Ängste in ihr zu entwickeln. Deshalb meide sie jede Höhe, von der aus sie gezwungen sei, hinabzublicken.

Sofort ergriff Rabulski mit seiner möglicherweise durch übermäßig viele verfaßte, rechtsphilophisch nicht eben logisch erscheinende Schriftsätze in mehr oder minder banalen Verkehrsstrafsachen erlahmten rechten Schreibhand ein imaginäres Seil. Es bot sich ihm dar in Form eines Handlaufes, auch als Treppengeländer bekannt. Er selbst verfügte zwar über geringe bergsteigerische Erfahrung, doch er erinnerte sich, in sehr jungen und durchaus noch sportiferen Jahren einmal dazu verführt worden zu sein, unweit des Mont Blanc den Anstieg zu einem in Fachkreisen nicht allzu anspruchsvoll genannten Gipfel in Angriff zu nehmen. Für diesen Kreuzweg nach ganz oben hatte er einen Kamin zu durchklettern, der ihn in seiner extremen Angst vor Enge das Fürchten lehrte. Doch sein voraussteigender Gipfelstürmer hatte ihm immerhin das ihm dennoch dünn erscheinende Ende eines tauartiges Gebildes zurückgelassen, an dem er Halt finden konnte, wenn es auch ein vermeintlicher war. Das nun angebotene Treppengeländer erschien ihm weitaus stabiler. An ihm zog er sich also hinauf, den Stock als Treppensteighilfe benötigte er dazu überhaupt nicht. Ihm war, als ob er geschoben, eher noch, als ob ihn seine Begegnung auf kräftigen Armen tragen würde. Nun, seine vielen altersbedingten Zipperlein hatten ihn im Lauf der letzten Jahre aber auch enorm an Gewicht verlieren lassen. Dennoch gewann er den Eindruck, diese Buchhändlerin müsse neben dem Chorgesang in ihrer Freizeit noch eine weitere Tätigkeit ausüben, die mit kräftigendem Sport zu tun haben könnte.

In der vierten Etage und vor der Wohnungstür angekommen, eröffnete ihm die Gipfelstürmerin wider Willen, sie hätten durchaus den Fahrstuhl benutzen können. Den, wobei sie eine Entschuldigung einschob, vermeide sie jedoch wegen ihrer Befürchtung, das vor Jahrzehnten nachträglich ins Haus eingebaute Gerät könne stehenbleiben und sie müsse möglicherweise eine ganze Nacht darin verbringen. Da zöge sie ihr gemütliches Sofa vor, auf das sie ihn sogleich bei rotem Wein und bläulichen Törtchen, deren Crème ihre Farbgebung aus Heidelbeeren bezögen, bitten werde. Sie gab in den rechts der Tür angebrachten Kleincomputer, den er aus seinem Land kannte, den er jedoch in Deutschland noch nie gesehen hatte, eine geheime Zahl ein, und mit einem leisen Summen öffnete sich die Pforte zu ihrem Reich.

Sie drückte verschiedene, in die Wand eingelassene Knöpfe. Leise, aber unüberhörbar erklangen Madrigale der Renaissance, von denen er bereits in den ersten Klängen meinte, sie schon einmal gehört zu haben, die er jedoch nicht annhähernd genau bestimmen konnte, für derartige Feinheiten war sein musikalisches Erinnerungsvermögen zu schwach ausgeprägt. Sanftes Licht aus einer schieren Unzahl an in Ecken und Winkeln verborgenen Lämpchen durchflutete die gesamte, von ihm auf etwa einhundert Quadratmeter geschätzte verzweigte Wohnung. Sie half ihm aus seinem leichten Mantel, legte ihre wesentlich wärmendere Jacke sowie Schal und Handschuhe ab und bat ihn in einen Raum, in dem ein Sofa das leicht seitlich versetzte Zentrum bildete. Dorthin möge er sich setzen, sie stelle nur eben die Einkäufe ab und sei sofort zurück. Gerne möge er sich aber auch umsehen oder auch eine andere Musik auflegen, wenn ihm danach sei. Doch sie hege keinerlei Zweifel an seinem Gefallen an diesen Klängen. Sie habe sich ein Bild von ihm gemacht und sei sich sicher, ihn schon lange zu kennen. Zur Renaissance dürfte er ohnehin einen ausgeprägten Bezug pflegen, auch wenn der anzunehmenderweise von seiner eher rückblickenden Neigung herrühre und er gerne verdränge, daß es sich um die Moderne handele, die seinerzeit mit ihr eingeläutet worden war.

Diese von ihr wiederholte Feststellung verblüffte ihn erneut. Er nahm den angebotenen Platz auf dem recht voluminösen Sofa, wenn auch eher auf der vorderen Kante. Wie der schüchterne Jüngling früherer Zeit empfand er sich. Dort grübelte er wiederum darüber nach; Wo sollte sie sich ein Bild von ihm gemacht haben, woher sollte sie ihn kennen? Ihm war das ein Rätsel. Eine Buchhändlerin aus Nordwestdeutschland sollte einen Juristen aus dem französischen Lothringen kennen? Er beschloß, sich ein Herz zu fassen und sie nach den Grundlagen für diese Behauptung zu fragen, selbst auf die Gefahr hin, wegen seiner Neugierde gemaßregelt zu werden.

Als sie innerhalb kürzester Zeit in den Raum zurückkehrte, der hierzulande wohl Wohnzimmer genannt wurde, mit einer Flasche aus dem Bergerac in der einen Hand und zwei zwar langstiligen, dennoch schlichteren Ballons in der anderen, verließ ihn auf der Stelle wieder der Mut, nachzufragen. Sie stellte die Flasche mit dem Wein aus der von ihm als recht versiertem Trinker bevorzugten Région sowie die Gläser auf dem kleinen, mit Intarsien belegten Tisch ab, schenkte ein, reichte ihm eines der etwa zur Hälfte gefüllten Gläser und setzte sich bei leichtem, ersichtlich spürbarem Körperkontakt neben ihn. Ihre von einem Lächeln durchzuckten Augen mit benachbarten, für ihn erfreulich sichtbar werdenden sogenannten Krähenfüßchen kamen den seinen näher. Aus diesem Mund, den er seit jungen Jahren so gerne geküßt hätte, der ihm jedoch immer verweigert blieb, kam die von leichtem Spott begleitete Bemerkung, sie sei ihm also ein Rätsel. Sicher, sie sei zweifelsohne ein rätselhaftes Wesen, doch gerne würde sie die ihn so arg drängende Frage beantworten, woher sie ihn kenne. Es sei sehr viel weniger geheimnisvoll, als er vermutete. Es sei nichts als schnöde Wirklichkeit, die der Wahrheit auch nicht nur annähernd gleichkomme.

 
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Freitag, 6. Dezember 2013

Schwindelnder Anstieg

Von seiner linken Seite her erreichte ein Duft seine durch das Rauchen ansonsten ziemlich lädierte, für Geruchsempfindlichkeit zuständige sogenannte jakobsche Organ in der Nasenscheidewand, der ihm seit etwa einer Stunde alles andere als fremd erschien.

Was dies für für ein Duft sei, der sie leicht anwehe, fragte die Dame an seiner Seite, die sich mittlerweile als Stütze des körperlich zusehends verwelkenden Rabulski zu erweisen schien – der Wind mußte in diesem Augenblick vollends zu seinen Gunsten gedreht haben. Er sei der Anlaß einer un- oder auch außergewöhnlichen Begegnung, entgegnete er. Er allein habe ihn dazu bewogen, sich in die zentrale Unwirtlichkeit dieser kleinen Stadt im Nordwesten dieses ohnehin recht zugigen Landes zu begeben. Sie ließe sich auch als Nachweis einer Welt von Vorurteilen bezeichnen, denen auch diejenigen ausgeliefert zu sein scheinen, die sich selbst für die Inkarnation von Offenheit und Toleranz hielten, und das trotz der immer wieder gemachten Erfahrungen, die ihn in seiner geistigen Festgefahrenheit korrigiert hatten, nämlich die, Äußerlichkeiten allzu wesentliche Bedeutung zukommen zu lassen.

Ihm schien, als ob er sich seiner Gehhilfe entledigen könne, die er sich kürzlich zugelegt hatte, da ihm die Beinmuskulatur vollends abhanden gekommen war. Mit einem Mal sah er sich keinem dieser Ausfallschritte mehr ausgesetzt, nach denen Beobachter ihn, ohne Krücke gehend, für jemanden hielten, der sich bereits früh am Tag einem Rausch hingegeben hatte, der als Surrogat für sich nicht mehr ergebende, in ihn fahrende Träume diente. Seine Begegnung führte ihn zwar sanft, aber bestimmt in eine ihm völlig unbekannte Richtung. Er hatte nicht einmal den Anflug einer Vorstellung von dem, wohin das führen sollte, doch er spürte, wie er, der sich gegen jede Leitung durch andere augenblicklich auflehnte, wie gerne er sich von ihr führen ließ.

Sie gingen durch mittlerweile stillere Straßen, die zusehends weniger werdenden Menschen in ihnen waren bar jeder Hektik, wie sie diese Anderen ein paar Schritte nur entfernt an den späten Tag gelegt hatten, die sich in dieser anderen Ersatztrunkenheit befanden, in der des Verdrängens der Tatsache, daß es auch ein Leben ohne Tand auf technisch neuestem Stand gibt. Als er vor ungefähr dreißig Jahren begonnen hatte, an Symposien wie etwa Die Wahrnehmung der neueren Warenwirklichkeit und der sich daraus ergebenden juristischen Konseqenzen teilzunehmen, sollte er bald auf ein Ladengeschäft stoßen, über dessen Eingangstür man den Namen Frénésie de consommation in seinerzeit noch nicht allzu großbuchstabigen Lettern genagelt hatte, als ob es sich die These einer Reformation der hugenottischen Reformation handelte, mit der der Ablaßhandel wieder eingeführt worden wäre. Kurz darauf betrat er zu Studienzwecken ein am Rand des Zentrums einer süddeutschen Großstadt gelegene Institution, die sich Kaufrausch nannte, in der all das zu erstehen war, das der Mensch mit höchster anzunehmender Wahrscheinlichkeit nicht benötigte. Die niedliche Ente aus im wesentlichen naturbe-lassener, lediglich mit kindertauglichen Farben illustrierter Plastikmasse – damit kündigte sich eine neue Entwicklung an, die später den Titel Nachhaltigkeit tragen würde, ein aus dem Bergbau stammender Begriff aus der Epoche der Romantik, der von dem Ingenieur Freiherr von Hardenberg eingeführt worden sein dürfte –, an diesem entzückenden gelben Tierchen mit schwarzem Schnabel und rotem Pürzelchen konnte er dann doch nicht vorübergehen, ohne es zu kaufen. Auf diese Weise verschaffte er sich ein wenig Geselligkeit in den Badewannen der Hotels, die er häufig aufsuchte, da er sich in dem Element am wohlsten fühlte, aus dem er hauptsächlich bestand. In diesem Wasser ließ er sich allzu gerne untergehen, als ob er über Bord gegangen wäre, vermutlich in seinem Hoffnungstraum, eine der Nereïden könnte den Schiffbrüchigen erretten. Bei Platon, auch bei Homer in dessen Ilias, sehr viel intensiver allerdings bei Hesiod hatte er von diesen Nymphen gelesen, die ihm ein wohligeres Leben suggerierten als sein bisheriges, doch etwas trockeneres Dasein.

Während Rabulski sich so seinen Gedanken über die Welt des Olympischen und Halbgöttlichen hingab, seine Führerin schwieg beredt, als ob sie ihn in seinen Gängen durch sein heimliches Universum nicht unterbrechen wollte oder gar an ihnen teilnahm, stand er plötzlich vor einem Haus mit leicht klassizistischen Anleihen. Es dürfte sich um ein Gebäude aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts handeln, in denen sich die Architekten und Bauherren nur zu gerne solch historisierenden Attituden hingaben, mit denen sie offenbar die als Ungemach empfundene Moderne verdrängten. Seine Weggefährtin seit kurzem stieg die wenigen flachen Stufen eines in seinem Maß durchaus beachtlichen Eingangsportals hinauf, öffnete die Tür und bedeutete ihm, begleitet von einem freundlichen, geradezu liebevollen Lächeln und auffordernden Nicken, einzutreten. An den Treppenstufen angekommen, die er wortlos aufgefordert war, zu besteigen, schwindelte ihn leicht, und er sah sich gezwungen, sich am Geländer festzuhalten. Es handelte sich um einen dieser Anfälle, die er hin und wieder hatte, denen er jedoch, vermutlich, weil er seine altersbedingt verminderte körperliche Leistungsfähigkeit längst gewohnt war, keine weitere Bedeutung zumaß. Seine mittlerweile nahezu vertraute Begegnung veranlaßte es jedoch zu der Bemerkung, es existiere offensichtlich auch hierbei eine gewisse Nähe zwischen ihnen beiden. Auch bei ihr sei es so, daß ihr schwindelig würde, wolle sie hoch hinauf. Allein der Blick hin zu einem Berggipfel reiche aus, gewisse Ängste in ihr zu entwickeln. Deshalb meide sie jede Höhe, von der aus sie gezwungen sei, hinabzublicken.

 
Fr, 06.12.2013 |  link | (471) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Mittwoch, 4. Dezember 2013

Beruferaten

Es sei mit Sicherheit etwas dabei, das auch seinem Geschmack entspräche.

Vor einem kleinen Ladengeschäft angekommen, das zweifelsohne bereits in der Auslage eher einer Pâtisserie seines Landes ähnelte als einer deutschen Konditorei mit ihrer doch recht eingeschränkten, mentalitäts- oder auch geschmackstypischen Auswahl an trockenen Kuchen, bat sie ihn, einen Moment zu warten, sie sei gleich zurück. Vielleicht gelüste ihn ja nach einer Zigarette, ja, für sie bestehe keinerlei Zweifel daran, daß er rauche, das könne er hier tun, denn innen sei das leider nicht gestattet. Das entspräche nicht dem reformatorischen Triebvermeidungseifer dieser neuen deutschen Welt, die alles, was sich Genüssen auch nur annähere, mittlerweile mit einem geradezu päpstlichen Bann belege, der Luthers Nachfolgeschaft in die Groteske setze. Sie als geborene Katholikin und Nichtraucherin dürfe das ohne weiteres behaupten. Im besonderen Letztgenannte seien geradezu die Fleischwerdung der Toleranz. À propos Fleisch. Das ihre sei Gemüse. Sprach's und entschwand durch den Eingang hin zu Lukulls Crèmetörtchen.

Als ob nichts Absonderliches geschehen wäre, als ob er nie anderes getan hätte als auf seine Gefährtin seit Jahrzehnten zu warten, die einmal wöchentlich ihren Bedarf an Leckereien deckte, den er nicht zu erfüllen schien, zündete er sich eine Tiefschwarze an. Er führte sie immer auf Vorrat mit, wenn er die Grenzen nach Deutschland oder in andere Hoheitsgebiete überschritt. Eigentlich rauchte er sehr viel lieber wie früher die gelbliche Boyard, eine papier maïs, mit etwas mehr Umfang als die ansonsten gebräuchlichen Zigaretten. Doch selbst die müßte er mittlerweile aus der Schweiz einführen, das war ihm dann doch zu umständlich, zudem der Geschmack nicht dem alten französischen entspricht. Die deutschen Zigaretten sagten ihm geschmacklich überhaupt nicht zu.

Die kurze Pause in der vorausgegangenen Atemlosgkeit des Geschehens ließ ihn zu Gedanken kommen. Er war zwar voller Verwunderung über das, was ihm seit kurzem geschah, dachte aber, wohl bedingt durch seine Faktenorientiertheit, in erster Linie darüber nach, was sie damit gemeint haben könnte, sie kenne ihn, habe sich gar ein Bild von ihm gemacht. Wie sollte das möglich gewesen sein? Wo sollte das möglich gewesen sein? Er lebte zwar ebenfalls in der Nähe des Rheins, jedenfalls nicht allzu weit weg von diesem großen Fluß, den einige Länder für sich in Anspruch nahmen, aber eben doch um einiges weiter südlich, eben nicht am nördlichen Niederrhein in der Nähe der Grenze zu den Niederlanden, und in Deutschland hielt er sich lediglich zu Gerichtsterminen oder der einen oder anderen Veranstaltung zu Fragen der Rechtsphilosophie auf. Auch vermied er es, sich im Internet zu tummeln, also zu surfen, wie das in der Sprache der neuen Welt genannt wurde. Sicherlich konnte auch er nicht auf diese Technik der doch recht rasch und unkompliziert erreichbaren Informationen verzichten. Aber einschlägige Seiten mied er. Die waren ihm unangenehm bis zuwider, zu viel Negatives hatte er darüber gehört und auch gelesen. Und daß sie beruflich miteinander zu tun gehabt haben könnten, das erschien ihm unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Diese Frau konnte keine Kollegin sein. In den Jahrzehnten seiner Berufserfahrung war ihm eine solche Erscheinung noch nie begegnet. Die Frauen seines Berufsstandes hatten durchweg einen eher negativen Eindruck bei ihm hinterlassen. Sicher, zu einem näheren, gar persönlichen Kontakt zu einer Juristin war es nie gekommen. Doch seine Menschenkenntnis forderte das Urteil heraus, bei dieser Frau könne es sich nur um eine Buchhändlerin oder möglicherweise eben noch um die Lektorin eines Verlages handeln, eines literarischen vielleicht, gegebenfalls einem für Kinderbücher. Ein Zugang zu dieser Welt fehlte ihm zwar völlig, da er keinerlei Erfahrung mit dem, im Gegensatz zu ihm, von vielen Menschen ersehnten Nachwuchs hatte, doch er hörte immer wieder davon, auch diese würden der Literatur zugeordnet.

Nach dieser für ihn nahezu unumstößlichen Feststellung öffnete sich die Ladentür, und die Erscheinung ging direkt auf ihn zu, hakte ihn wiederum unter und führte ihn bald aus dieser äußerst unangenehmen sogenannten Fußgängerzone heraus. In die hineingeraten war er lediglich, da ihm sein Rasierwasser ausgegangen war und man ihm an der Hotelrezeption gesagt hatte, das von ihm bevorzugte, seit bestimmt dreißig Jahren benutzte er ausnahmslos das dieses Herstellers, sei sicherlich in einer Parfumerie erhältlich, die über eine beträchtliche Auswahl hochwertiger, vor allem klassischer Duftwässer verfüge, und die lag nunmal in dieser an und für sich architektonischen sowie städteplanerisch unangenehmen, wenn nicht gar widerwärtigen Umgebung, in der nicht mehr eingekauft, sondern geshopt wurde. Aber nun, diese Atmosfaire le shopping gab es im heimatlichen Nancy auch. Allerdings war er dort nicht gezwungen, sie aufzusuchen, um den einzigen Fremdgeruch zu erstehen, den er an sich heranließ.

Von seiner linken Seite her erreichte ein Duft seine durch das Rauchen ansonsten ziemlich lädierte, für Geruchsempfindlichkeit zuständige sogenannte jakobsche Organ in der Nasen-scheidewand, der ihm seit etwa einer Stunde alles andere als fremd erschien.

 
Mi, 04.12.2013 |  link | (428) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Dienstag, 3. Dezember 2013

Begegnung

Es handelte sich tatsächlich um ein mädchenhaftes Gesicht.

Und tatsächlich, es lächelte, und ihm nicht nur etwa zu, sie ging auch einen Schritt in seine Richtung. Da stellte der rationaler Abstraktionen nicht gerade ungeübte Rabulski gerade noch rechtzeitig fest, diese Richtung sei auch keine andere als die zum Ausgang in die Fußgängerzone. Da tat er etwas, das er sich sein langes Leben lang noch nicht getraut hatte.

In diesem hatte er alles auf sich zukommen lassen. Es verhielt sich wie bei Katzen und Kindern. Obwohl er mit beiden Gattungen nicht sonderlich viel anzufangen wußte, kamen die ihm dennoch immer wieder entgegen. Jemanden anzusprechen, am Ende gar eine Frau, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Dazu war er zu zurückhaltend. Er war sich spätestens seit seiner späteren Jugend über die eigentliche Ursache im klaren; es war Schüchternheit. Mit den Jahren war es ihm gelungen, diese zu überspielen. Seine Tätigkeit als auch vor Gerichten agierender Rechtsanwalt machte diese Fähigkeit nicht nur erforderlich, sondern förderte über eine in der Sache logisch erscheinende wachsende Rhetorik hinaus auch sein Zugehen auf andere Menschen. Privat war diese Problematik allerdings aufgehoben, ging man doch wie vorbestimmt allzeit auf ihn zu.

Nun aber sah er sich gezwungen, einmal selbst tätig zu werden. Ihm schien es zudem als eine letzte Möglichkeit, auf eigene Inititiative hin eine Bekanntschaft zu machen, nicht zuletzt, da diese ihm im besonderen Maße reizvoll erschien. Und sei es, er holte sich ein Abfuhr. Er würde es ertragen, ertragen müssen. Allerdings hatte sein Streben nach Zukunft ohnehin seinen letzten Punkt erreicht. Die Lebensbahn bog gerade in die letzte Kurve ein, hinter der sich die Endstation ankündigte. Doch dieses Gesicht schien ihm eine andere Richtung zu signalisieren, ihn nachgerade aufzufordern, zumindest noch einmal Halt einzulegen. So stand er denn auf und ging, wenn auch zögerlich, ihr einen Schritt entgegen. Und ihr Lächeln hielt nicht nur an, es verstärkte sich noch. Ihre Richtung veränderte sich keinen Jota. Es war die zu ihm hin. Recht nahe kam sie ihm, blickte ihm in die Augen, jedoch auf eine andere Art, wie er sie aus seinem Land kannte, in dem es zur Höflichkeit gehörte, während eines noch so kurzen Gesprächs einander in die Augen zu schauen. Es war etwas, das er während seiner Aufenthalte in Deutschland so vermißte, ob momentan hier am Niederrhein unweit des niederländischen Westfrieslands oder in anderen Regionen, in denen er ebenfalls hin und wieder zu tun hatte, meist dann, wenn er als Spezialist für Asylrecht gefragt war oder auch schonmal in seinem auch privat bevorzugten Bereich der Rechtsphilosphie als Referent an Symposien teilnahm. Es war ein weiches, warmes Lächeln der Zuneigung, erzeugt von sanften Augen und überdies von einem ihn geradezu verzückenden außerordentlich großen Mund mit vollen Lippen, einer, den er sein Lebtag immer einmal geküßt haben wollte, der ihm jedoch nie entgegengekommen war in seinem mittlerweile durchaus bereits länger währenden Leben.

Sie stand vor ihm, nickte, ihr Lächeln beibehaltend, ihm zu und meinte, ihm eine ihn wohl bedrängende Frage beantworten zu müssen. Ja, sprach sie, sie sei noch frei. Worauf sie sich an seine linke Seite begab, ihn unterhakte und sanft die Richtung vorgab. Man müsse sich nicht auf einen Café oder ein Glas Rotwein bei Kerzenschein begeben, sie halte solcherlei ohnehin für mißverstandene oder triviale, banale, auf Zeichen für Analphabeten reduzierte Romantik. Sie verfüge nicht allzuweit entfernt über eine Wohnung. In der stünde alles bereit für ihrer beider Begegnung. Zwar begegneten sie einander heute zum ersten Mal persönlich, doch er sei ihr bereits seit einiger Zeit bekannt. Sie habe sich längst ein Bild von ihm gemacht.

Einen kleinen Augenblick müsse er sich allerdings noch gedulden. Ein paar Schritte weiter befände sich ein kleine Pâtisserie, sie sagte tatsächlich Pâtisserie und nicht Konditorei, dort müsse sie noch ihre Ration feine Törtchen abholen. Es sei mit Sicherheit etwas dabei, das auch seinem Geschmack entspräche.

 
Di, 03.12.2013 |  link | (430) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Freitag, 29. November 2013

Erleuchtende Erscheinung

Er mußte sich setzen. Die fremde Stadt setzte ihm zu. Dabei war sie gar nicht so fremd. Oder vielleicht doch. Er meinte sie zwar genau zu kennen. Doch solche Zentren von scheinbaren Metropolen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Es war letztlich unbedeutend, innerhalb welcher Landesgrenzen, in welcher Geographie man sich befand, es konnte sowohl der Süden als auch der Norden, der Westen oder der Osten sein, sie waren überall gleich ab- oder nachgebildet. Nicht einmal an den Beschriftungen der Auslagen war ersichtlich, wo man sich befand. Man konnte sich sowohl in Dänemark, England als auch in Frankreich befinden. Hier, während seines Aufenthalts in einer niederrheinischen Stadt der Größe, die man in Deutschland, wie er in dem von ihm besuchten und von der unweit ihren Sitz habenden Baumeistergilde gemeinsam mit dem örtlichen Psychologenverband veranstalteten Symposium über Psychosomatische Störungen bei Architekten durch Gegenfußläufigkeiten erfuhr, handelte es sich um ein sogenanntes Mittelzentrum. Das neuere sprachmodische Schlagwort war Solde, und das, obwohl man sich in deutschen Landen mittlerweile des über das Hugenottische oder Napoleonische eingeführte Französischen entwöhnt hatte, entwöhnt worden war; das US-Anglische hatte den Fremdwortbereich, wenn nicht gar die gesamte Sprache nahezu vollends übernommen. Vermutlich hatte ein Schaufensterdekorateur in Frankreich geurlaubt oder war auf dem Weg nach Andalutschia shopbummelnd durch einige Städte gecruist und fand diesen Ausverkaufsbegriff schick. Wie chic gleich élégant.

Auch wenn man sich inmitten des spätherbstlichen Weihnachtsverkaufszaubers befand: Alles muß immer irgendwie raus, und möglichst rasch wiederkennbar sowie fußläufig erreichbar sollte es sein. Der Mensch scheint sie zu benötigen, diese Art von Gleichförmigkeit, Einheitlichkeit, die ihm vermutlich Heimat vermittelt. Egal, ob Satellitenstadt oder Campingplatz, ob karibischer oder südseeischer Urlaubsort oder ein solcher in den niederländischen Alpen. Hauptsache, man findet rechtzeitig den Lichtschalter, auf daß einem ein Licht aufgehe. Oder an, es hat die gleiche, wenn nicht gar dieselbe Funktion. Man fühlt sich unwohl in einer Fremde, die dem Zuhause nicht zumindest ähnelt.

Seine fortgeschrittene Betagtheit hatte ihm zugesetzt. Die frühere durchaus sportiv zu nennende Beweglichkeit war über die letzten beiden Jahrzehnte dahingeschieden. Also setzte er sich hin. Den Setzer nannten sie ihn mittlerweile zuhause in seinem dort nicht derart bezeichneten Oberzentrum Nordostfrankreichs, derjenige, der sich immerfort hinsetzen mußte. Da saß er nun, inmitten der kalten Umgebung, wenige Grade über Gefriernull. Es war gleich, wichtig war es ihm, kurz ausruhen zu können. Das hektische Gerenne um ihn herum berührte ihn, der solches konsumistisches Innenstadtgehaste nicht ausstehen konnte, dennoch nicht weiter. Es hatte in erster Linie seine Ursache in einer Erscheinung, die den Brennpunkt seines restvermögenden, vom grauen Altersstar reduzierten Blickes gebildet hatte. Es gehörte offensichtlich zum Hinterkopf einer Dame, die extrem müde schien. Sie stand unweit seines Sitzortes an der Theke einer Bäckerei. Am Tresen schien sie sich festzuhalten, wie eine langgeübte, aber mittlerweile überforderte Trinkerin in einer ihr fremden Kneipe. Er nahm diesen Schopf zunächst wahr, als ob er kürzlich einem Fachgespräch unter Damen gelauscht hätte. Wie, hörte er sich er in den Friseursalon hinein fragen, konnte selbst ein ausgewiesener Könner seines Fachs eine solche Haarfarbe gemischt, sie überhaupt gestaltet bekommen haben? Doch dieser leuchtend hellgraue Schopf, der konnte zu keiner dieser Art von kreativen Schöpfungen eines Coiffeurs gehören. Hinzu kam die Länge des Haars, überhaupt die Frisur, die ihn in ihrer Form an eine Buchhändlerin erinnerte, die nahezu ihre gesamte Freizeit innerhalb eines Chors für hugenottische Gesänge verbrachte und die sich als untypisch bezeichnen ließe für ein Alter, das er daraus zu folgern schien. Er war sich beinahe sicher, es könnte sich um keine dieser Frauen handeln, die bereits frühmorgens begannen, sich in einem Frisiersalon mit einem Fläschchen Schaumwein den anfänglichen Tag zu versüßen. Und genau in diesem Augenblick drehte sie ihren Kopf zur Seite, als ob sie seine wahrneh-mungsphilosopischen Nachdenkereien gespürt hätte. Er meinte, ein leichtes Lächeln, möglicherweise gar zu ihm hin, vernommen zu haben.

Es handelte sich tatsächlich um ein mädchenhaftes Gesicht. Gleich einem Schlag in seine Gehirnwindungen wurden ihm seine fortgeschrittenen Jahre bewußt. Dies war eine Welt, die sich längst von ihm abgewandt hatte.

 
Fr, 29.11.2013 |  link | (812) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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Donnerstag, 28. November 2013

Armer polnischer Adel

Ich bin Rabulski, vornamentlich Didier, mit zweitem Ryszard, in Erinnerung an einen Onkel in der alten Heimat. Meine Familie hat sich zu einer durchaus als historisch zu bezeichnenden Zeit und lange vor berühmten Persönlichkeiten wie etwa Frédéric Chopin mit seiner letzten Habe auf einer desolat daherrumpelnden Postkutsche aus dem Osten nach dem Westen aufgemacht, nach Frankreich. In diesem Land waren wir Polen immer willkommen. Es wird auch daran gelegen haben, daß Katholiken sich untereinander besser zu verstehen scheinen. Und wenn noch blaues Blut in ihnen floß, nahm man sie in Gottes eigenem Land, wie ein Deutscher das einmal leicht verunglückt pathetisierend übersetzte, mit noch weiter geöffneten Armen auf. Es geschah sogar, daß man ihnen große Güter zukommen ließ, wie das etwa bei Stanislas der Fall war. Stanisław Leszczyński war einst König von Polen und wurde Herzog von Lothringen, wohl nicht zuletzt, da er im 16. Jahrhundert Schwiegersohn des fünfzehnten Ludwigs geworden war. Dieser Stanislaus hat das alte Nancy gestaltet.

Nancy ist die Stadt, in die es auch meine Familie seinerzeit zog. Sie nahm vermutlich an, auch verlumptem Adel ginge es dort besser, es könnte wieder aufwärts gehen mit ihm. Es sollte sich nicht als derart günstig erweisen. Die Rabulskis hatten ihren Lebensunterhalt eigenhändig zu sichern, hatten zu arbeiten. Irgendwann kehrten sie in die alte Heimat zurück, siedelten in Kraków an. Doch aus der wurden sie vertrieben. In ihrer kleinen Odysée landeten sie schließlich wieder in Nancy, jedoch in erster Linie wegen der Nähe zu Deutschland.

Dortin die Grenze überschreiten, und es ließ sich sogar im unweiten, gleichwohl bereits sündhaft teuren Baden-Baden wesentlich kostengünstiger speisen als in der Heimat. Die aus dem Osten via der Alsace heranwallende, rein kulinarisch motivierte Völkerwanderung hatte die gastronomische Preisstruktur auch im nördlicheren Teil Frankreichs arg deformiert. – Nun, dort fand die letzte Generation dieses herunterkommenen Teils alten polnischen Adels, hier in meiner Gestalt, Brot, als Advocatus, wenn auch nicht in einer dieser brillierenden Kanzleien, sondern als einer, der von einer Hinterstube aus Asylanten das Leben zu erleichtern versuchte und sich mit Verkehrsstrafsachen sein schmales Einkommen aufzubessern trachtete.

Wie nahezu jeder Jurist hat auch er künstlerische Ambitionen. So dilettiert er in seiner letztendlich üppigen freien Zeit in den Abendstunden im linden Kerzenschein seiner spitzwegschen Dichterstube als vermeintlich literarischer advocatus diaboli; ein wenig wider den Stachel einer heutzutage möglicherweise nicht so recht verstandenen Aufklärung löckend. Er sitzt in romantischem Halbdunkel und schreibt eine Geschichte auf, die seiner Familie. Und die beginnt mit dem vorerstigen Ende, als derzeit letzte Station, als eine der Liebe. Die wiederum nahm ihren Anfang nach einer Tagung am deutschen Niederrhein zur Thematik Psychische Störungen aufgrund familiarer Problemata in Einwanderungsgesellschaften. Am Abend ergab sich eine private Runde, die in der Folge eine Liebe gebar; aus dem gesellschaftlichen Mäuslein, das der Fels in seinem Kreisen hevorbrachte, um ein solches auszuwerfen, wurde schließlich eine Gebirgskette. Die wird, die muß hier geschildert werden.

 
Do, 28.11.2013 |  link | (630) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Liebesgeschichte

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